Die Ungehorsame Historischer Roman
sein Glauben. So tolerant müssen wir immer sein. Er findet Trost darin.«
»Er wird ohne Trost sterben!«
Fassungslos starrte Merzenich seine Nichte an.
»Richtig, Pastor, wie Leonie es wünscht«, bestätigte auch Hendryk.
»Aber … aber …«
»Er wird ohne Trost sterben!«, kam es kalt von Edith.
»Und er wird, wenn es nach mir geht, an der Friedhofsmauer verscharrt, dort, wo Verbrecher hingehören!«, knurrte Sven.
Elfriede brach in hysterisches Kreischen aus, und Edith gab ihr eine Ohrfeige.
Verdutzt stellte die Frau das Geräusch ein.
»Sie haben mit Schuld daran, Elfriede. Hätten Sie besser auf Rosalie aufgepasst, hätte er sich nicht an ihr vergangen!«
»Was sagst du da?«
»Ich erkläre es Ihnen gerne. Pastor, wenn das Ihre Ohren beleidigt, verlassen Sie besser den Raum.«
Aber Merzenich blieb, während Edith ihr erklärte, was sie an Rosalie
beobachtet hatte und was das Kind ihr auf seine eigene, hilflose Art verraten hatte. Erschüttert sah der Pastor Hendryk an, während Edith und Leonie schließlich die zitternde Elfriede aus dem Zimmer führten. Hendryk hatte Mitleid mit ihm, aber er konnte es ihm nicht ersparen, dem Geschehenen ins Augen zu sehen.
»Ja, ich fürchte, das ist die Wahrheit«, sagte er.
»Ja, aber …«
Und Sven fügte hinzu: »Haben Sie sich je gefragt, wer Rosalies Vater war?«
Pastor Merzenich verstummte und faltete nur die Hände zum Gebet.
Hendryk aber stand auf und lehnte die Stirn an das kalte Glas des Fensters. Es war nur gut, dass der Mann da oben schon im Sterben lag. Hätte er das früher gewusst, wäre vermutlich Schlimmeres passiert. Er hätte es nicht bei der Erpressung belassen. Mühsam rang er seine Gefühle nieder.
Während nun im unteren Salon die drei Männer schweigend zusammensaßen, denn es gab nicht mehr viel zu sagen, war von oben plötzlich Türenschlagen zu hören, und Elfriedes aufgebrachte Stimme schallte durch das Haus.
»Ich weiß, du Schwein, du kannst nicht mehr sprechen, und das ist gut so. Eines verspreche ich dir - ich werde dafür sorgen, wenn ich endlich Witwe bin, dass kein einziges Gebet für dein Seelenheil gesprochen wird. Von mir aus kannst du die Ewigkeit in der Hölle verbringen!«
Wieder knallte die Tür, und Edith kam zu ihnen in den Salon.
»Elfriede wird ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Sie hat mit unerfreulichen Erkenntnissen zu ringen.«
»Wo ist Leonie?«
»Sie sitzt am Bett ihres Vaters. Sie wird dort sitzen bleiben, bis er gestorben ist.«
»Das muss sie nicht tun«, wandte Hendryk aufgebracht ein.
»Es ist ihre letzte Tochterpflicht, Hendryk, lasst sie«, wandte der Pastor ein.
Edith schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht ihre letzte Tochterpflicht, Pastor. Sie wird schweigen und ihn ansehen, wie auch an Rosalies Beerdigung. Und er wird wissen,
dass die Vergelterin bei ihm sitzt. Eine, die das Wort Gnade nicht kennt. Nur Gerechtigkeit.«
Merzenich sackte in sich zusammen, und irgendwann hob auch er den Kopf und seufzte: »Sogar mir fällt das Beten schwer.«
Hendryk hingegen fiel es leicht, aber er betete ja auch für seine mutige, beherrschte Frau, eine untadelige Dame in jedem Sinne, und die Worte, die er fand, waren von großer Innigkeit.
Lange nach Mitternacht war es, als Leonie leise in den Raum trat.
»Es ist vorbei.«
Hendryk erhob sich und bot ihr den Arm.
»Danke. Dürfte ich ein Glas Wein haben?«
»Natürlich, sofort.«
Sven nahm die Karaffe vom Tisch und goss ihr ein. Sie nippte daran, nahm aber dann einen großen Schluck.
»Nehmt bitte zur Kenntnis: Ich werde keine Trauer tragen, ich werde keine Karten verschicken, ich werde nicht an einer wie auch immer gearteten Beerdigung teilnehmen und keine Kondolenzbesuche entgegennehmen. Für mich ist Gustav Gutermann schon vor langer Zeit gestorben. Er war mein Vater nicht.«
»Ich schließe mich dem an«, sagte Hendryk, und Sven nickte.
»Ich auch!«, meinte Edith, »und ich vermute, Elfriede wird sich ähnlich verhalten.«
»Dann wird es meine Christenpflicht sein, meinen Halbbruder zu begraben.« Pastor Merzenich sah müde und alt aus. »Aber, um Gottes willen ja, ich habe Verständnis für euch.«
»Hendryk, können wir dieses Haus endgültig verlassen?«
»Sicher, Leonie. Ich habe ein Hotelzimmer gemietet. Und mit der ersten Kutsche fahren wir morgen früh zurück.«
Gemeinsame Entdeckung
DIE WONNEVOLLSTEN FREUDEN SIND DIE,
WELCHE MAN MITTEILT UND EMPFÄNGT,
OHNE DEM VERSTANDE DAVON RECHENS CHAFT ZU GEBEN.
Freiherr von Knigge:
Weitere Kostenlose Bücher