Die ungehorsame Tochter
ihren Cousin. Wie am vergangenen Abend war er wortkarg, doch als ihre Blicke
sich trafen, lächelte er flüchtig. Sie verstand seine Stimmung, der Wassereinbruch in der Mine musste eine schwere Sorge sein.
Zum Glück, so hatte er versichert, sei dabei niemand ums Leben gekommen. Er schien eine längere Rast zu wünschen, denn er
verknotete sorgfältig eine Leine zwischen dem Sattel seines Pferdes und dem Stamm einer Esche, die neben dem rundlichen Felsen
aus dem Hang wuchs.
«Ist es noch weit?»
«Nein.» Er prüfte den letzten Knoten, öffnete die Satteltasche und nahm den Beutel mit ihrer Wegzehrung heraus. «Nein», wiederholte
er, «nicht mehr weit.» Er legte Brot und Rauchfleisch auf den Felsen, trat an den Rand der Schlucht und zeigte vage nach Westen.
«Dort, keine Viertelmeile entfernt. Von hier könnt Ihr schon erkennen, wo der Wald für den Vorplatz zurückweicht.» Er drehte
sich nach ihr um und bewegte auffordernd den Kopf. «Kommt doch näher.»
Rosina schüttelte den Kopf. «Lieber nicht. Es reicht, wenn ich während des Ritts ständig nahe am Abgrund sein muss. Ich bin
wohl eine Komödiantin, aber keine Seiltänzerin.»
«Ihr braucht kein Seil, Cousine. Kommt her.» Er griff nach ihrem Arm und versuchte, sie heranzuziehen. «Hier gibt es nichts,
woran es zu befestigen wäre.»
«Lasst mich, Klemens.» Lachend wehrte sie sich gegen seinen Griff und zog ihren Arm zurück. «Ich glaube auch so, dass wir
bald am Ziel sind.»
«Am Ziel», sagte er, griff wieder nach ihrem Arm, umklammerte ihn fest, und endlich merkte sie, dass dies kein Spaß war.
Heftig schlug sie auf seine Faust, entzog ihm mit einem Ruck ihren Arm und stolperte im Versuch, von ihm zurückzuspringen,
gegen die Felsen. Da war er schon über ihr, zerrte sie auf die Füße und näher an den Rand der Schlucht. Aber er unterschätzte
ihre Kraft, sie wehrte sich verzweifelt, trat mit den harten Reitstiefeln nach ihm, grub schließlich ihre Zähne in sein Handgelenk.
Da schlug er sie ins Gesicht, sie taumelte unter der Wucht des Schlages, taumelte zurück, ihre Füße verloren den Halt, und
ihre Hände griffen nach dem Einzigen, was sie erreichen konnten, nach den Aufschlägen seines Rockes. Ein heiserer Schrei hallte
durch die Schlucht, brach sich an den felsigen Wänden, und auf dem schmalen Platz am Pfad war niemand mehr als die erschreckten
Pferde.
«Ihr irrt Euch.» In Filippos Gesicht stand nichts als Ungeduld und Ärger. «Er hat ‹den rechten Weg› gesagt. Ich bin ganz sicher.»
«Aber nein.» Christians Stimme klang kaum milder. «Ihr seid es, der hier irrt. Er hat gesagt: ‹Der Weg rechts vom Stein›.
Das meint eindeutig den linken Weg.»
Christian und Filippo hatten sich beeilt, den schmalen Pfad hinaufzureiten. Die Gabelung, von der der Köhlergehilfegesprochen hatte, war bald erreicht und tatsächlich an dem alten Kreuzstein leicht zu erkennen. Die eingekratzte Inschrift
erinnerte an einen Mann namens Jobst Peter, der hier vor fast vierzig Jahren einen gewaltsamen Tod gefunden hatte. Der Stein
stand wenige Fuß links der Gabelung, sodass beide, der nach rechts und der nach links führende weitere Weg, rechts des Steines
begannen. Es war tatsächlich darüber zu streiten, was der Köhler mit seiner Auskunft gemeint hatte.
Zum Streiten sei nun aber keine Zeit, beendete Filippo schnell das kurze Rencontre. Am besten nehme jeder den Weg, den er
für den richtigen halte. Und so geschah es.
Schon bald merkte Christian, dass sein Weg steil bergauf führte und immer schmaler wurde. Ein solcher Bergpfad als Zufahrt
zu einer Mine? Hatte womöglich Filippo doch recht gehabt? Nachdem er eine Weile mit sich gerungen hatte und an eine etwas
breitere Stelle kam, sprang er aus dem Sattel, nahm sein Pferd am kurzen Zügel, drehte es vorsichtig auf dem schmalen Grat
und ritt, so schnell es der unebene Weg zuließ, zurück.
Er hatte den Kreuzstein und die Gabelung passiert und gerade den anderen Weg eingeschlagen, als er den Schrei hörte. Im ersten
Moment dachte er nicht, dass er menschlich sei, sondern von einem der Raubvögel in den Wäldern stamme. Doch dann trieb er
sein Pferd fluchend voran. Filippo, dachte er. Er hatte ihm nie ganz getraut, von Anfang an nicht. Wer war Filippo überhaupt?
Saß ein einfacher Komödiant und Akrobat im Sattel wie ein Kosak? Keiner der Komödianten war vertrauter mit Klemens gewesen
als er. Was, wenn er nur so auf Eile gedrungen hatte, um
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