Die ungewisse Reise nach Samarkand: Roman (German Edition)
nach
Frankfurt, die zweite nach London, die dritte nach Amsterdam. Paula hatte den Flugplan,
zumindest, was diese frühen Flieger anbelangte, noch sehr gut im Kopf, von all den
Reisen her, die sie mit Robert im Lauf der Jahre gemacht hatte. Fast überall waren
sie gewesen, in jedem Kontinent. Tolle Reisen waren das gewesen, spannend, aufregend,
abenteuerlich. Manchmal auch anstrengend und sogar unbequem, aber immer wunderschön.
Meistens jedenfalls. Aber das war nun vorbei. Roberts Reiselust schien auf einmal
wie weggeblasen, ausgerechnet jetzt, wo er alle Zeit der Welt hatte. Robert hatte
die Nase so voll gehabt von der Uni, dass er von einem Tag auf den anderen in den
Ruhestand geflüchtet war. Weg von nervenden Gremiensitzungen, unerquicklichen Verwaltungsarbeiten,
dem Gerangel unter missgünstigen Kollegen. Und auch weg von seinen Studenten. Unbegreiflich,
dass die Studenten für ihn nur ein Klotz am Bein waren. Immer wieder hatte Paula
ihm gesagt, dass er mit dieser Einstellung an der Uni falsch sei. Wenn er nur forschen
wolle, dann müsse er sich einen Sponsor suchen. Robert, der Forscher. Oder Robert,
der Privatgelehrte. Ja, das wär’s wohl gewesen. Doch jetzt konnte er das ja eigentlich
tun. Jetzt störte ihn keiner mehr. Aber nein. Schlagartig war alles vergessen. Die
Projekte, die er vollmundig angekündigt hatte, die Studienreisen, die er machen
wollte, die Bücher, die er schreiben würde. Total aus dem Blick geraten. Robert
tat nichts mehr, absolut gar nichts. Was war nur aus ihrem ambitionierten Wissenschaftler
geworden? Ein – was sollte sie sagen? Ein Wichtel? So bequem, dass er nicht mehr
verreisen wollte. Warum auch? Schließlich hatte er doch so ein schönes Zuhause,
so einen schönen Garten. Sein Horizont reichte gerade mal von Bremen bis nach Cuxhaven.
Höchstens. Da war allenfalls noch das Konzertabonnement, ja. Auf das legte er tatsächlich
noch Wert. Aber sonst? Nur selten ging er mit ins Kino, Ausstellungen sah er sich
überhaupt nicht mehr an, und die Bücher, die sie ihm mitbrachte, blieben ungelesen
liegen. Und bis sie ihn endlich so weit hatte, zu einer Einladung mitzukommen. Das
war jedes Mal ein Kraftakt. Dann aber spielte er den Partylöwen. Erzählte ewig von
früheren Erfolgen und gab seine sattsam bekannten Anekdötchen von sich. Ein Löwe
ohne Biss. Ein zahnloser Löwe.
Darüber
hinaus pflegte er unzählige Wehwehchen, vom eingewachsenen Zehennagel bis zum Schnakenstich
am Po, hinter dem er einen bösartigen Tumor vermutete. Neulich rannte er in panischer
Angst zum Arzt, weil er Blut im Stuhl hatte. Hätte er Paula gefragt, dann hätte
sie ihn an die rote Bete erinnert, die er am Tag vorher gegessen hatte. Überhaupt
saß er ständig in den Wartezimmern herum, beim Orthopäden, beim Urologen, beim Hautarzt,
beim HNO-Arzt, beim nächsten Orthopäden (der erste war ein Idiot), seit Neuestem
auch beim Augendiagnostiker. Dabei war er fit wie ein Turnschuh.
Das musste
jetzt der Flieger nach London sein. Paula hatte sogar im Dösen noch mitgezählt. Wirre Bilder zogen an ihr vorbei. London – Toronto, London – New York,
London – Johannesburg. Ja, das war was gewesen, damals. Als sie fast den Flieger verpassten,
weil sie in der National Gallery total die Zeit vergessen hatten. Und dann auf dem
Weg zur U-Bahn von diesen Rowdys mit Wasserpistolen bespritzt wurden. Mit blutroter
Flüssigkeit, und das auf ihren hellen Trenchcoats. Aber plötzlich – kaum zu glauben
– verschwanden die Flecken wieder. Ein Scherzartikel natürlich. Wie das technisch
ging, hatte Paula bis heute nicht kapiert. Dann stundenlanges Herumsitzen, weil
die Fluglotsen streikten. Sieben Stunden, um genau zu sein. Und wie Freund Lukas
merkte, dass er kein Visum für Südafrika hatte. Und wie er in aller Seelenruhe noch
mal in die Stadt fuhr und sich in der Botschaft ein Ersatzvisum holte.
Plötzlich
saß Paula nicht mehr im Flieger, sondern auf einem Maultier, das von einem bärtigen
jungen Mann mit funkelnden dunklen Augen und blitzenden weißen Zähnen geführt wurde.
Sie warf ihm kokette Blicke zu, und ja, sie würde ihm bis an den fernen Horizont
folgen, wo die prachtvollen Kuppeln der Moscheen golden im Sonnenlicht glänzten.
Paula auf dem Weg ins Morgenland.
Zwischen
Samarkand und Taschkent rasselte der Wecker, den sie sich gestern Abend gestellt
hatte. Idiotisch, denn heute Morgen lag eigentlich nichts an. Rasch stellte sie
das Ding ab und drehte sich noch mal um.
Robert hatte
anscheinend nichts
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