Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
trinken.
»Chin chin«, sagte der Italiener und fragte: »Wie heißt du, schöne Göttin des Weines?«
Ich sah, wie sie ihn anschaute. Erst jetzt schien sie ihn richtig wahrzunehmen. Sein dunkles, gelocktes Haar, seine gerade Nase und seinen römisch geschwungenen Mund. Sie legte den Kopf ein wenig schräg.
Oh nein, das war kein gutes Zeichen!
»Isabelle«, sagte sie kokett, »und du, Casanova?«
»Stefano. Erster Märtyrer und Held. Hast du Lust, mal eine Pizza essen zu gehen?«
»Ja, warum nicht?«, antwortete Isabelle unbedarft.
»Fein. Dann bringe ich dir ein bisschen Italienisch bei …«
»Oh, das kann ich gebrauchen!«, sagte sie begeistert und biss von dem trockenen Brot ab, das ihr jemand gereicht hatte. »Mein Italienisch ist grottenschlecht.«
Ich musste die Augen verdrehen. Erster Märtyrer und Held! Es war doch nicht zu überhören, dass er selbstgefällig und arrogant war – und Isabelle fiel glatt auf seine plumpen Kommentare herein. Also wirklich! Die Eifersucht in mir sprang an und lief wie ein kleiner brummender Motor. Doch nicht so einer, dachte ich.
Aber er wickelte sie jeden Tag ein Stückchen weiter um den Finger und sagte ihr mit verschwörerischem Augenzwinkern lauter Zweideutigkeiten, die sie nicht verstand. Ob das nun an ihren schlechten Italienischkenntnissen lag oder daran, dass sie sich von seinem perfekten Äußeren blenden ließ, weiß ich nicht. Doch es war eindeutig, dass sie ihm gefallen wollte. Ihre Gestik veränderte sich, ihre Haltung und sogar ihre Stimmlage. Ich erkannte sie gar nicht wieder. Doch sie steuerte unbeeindruckt auf das Unvermeidliche zu.
»Stefano ist ein schicker Typ, meinst du nicht, Mon ami?«, fragte sie mich eines Abends. »Er sieht unheimlich gut aus.«
Ja, das kann man nicht bestreiten. Aber sonst?
»Und er ist lustig.«
Wirklich?
»Also, ich mag ihn.«
Welchen Sinn hatte es, sich querzustellen? Isabelle mochte diesen Aufschneider, und wer weiß, vielleicht hatte ich mich ja getäuscht und hinter seiner oberflächlichen Masche verbarg sich ein feinfühliger Mensch.
Am dritten Abend zog Isabelle eine frische Jeans an, fuhr sich durch das kurze Haar und kniff zwei Mal in jede Wange, um nicht ganz so winterblass zu wirken. Mit einem kleinen Taschenspiegel schminkte sie sich die Lippen dunkelrot.
»Mon ami«, sagte sie. »Ich habe eine Verabredung mit Stefano, was sagst du dazu?«
Was soll ich dazu sagen? Ich weiß.
»Mal sehen, was dran ist an diesem Gerücht über die schönen Italiener.«
Ich räusperte mich. Es lohnte ja nicht, sich aufzuregen. Außerdem bist du nicht ihre Mutter, ermahnte ich mich, sondern ein Bär. Beschwingten Schrittes und ihre schwarze Tasche schwingend verschwand sie und freute sich auf den Abend.
Mitten in der Nacht fiel etwas neben unserem Bett polternd zu Boden.
»Ruhe!«, rief jemand.
Ich konnte nichts erkennen. Es war dunkel, und von draußen fiel kaum Licht ins Gebäude, denn die Stromversorgung war noch immer nicht komplett wiederhergestellt. Wieder rumpelte es.
Isabelle.
Sie ist angetrunken, dachte ich. Jetzt legt sie sich gleich ins Bett, und dann kommt wieder dieser Satz: »Mon ami, ich glaube, ich bin verliebt.« Gleich fängt der ganze Kummer wieder von vorn an. Wo wir doch gerade den Professor vergessen hatten und nicht mehr nur Joan Baez hören mussten, sondern auch wieder die Beatles im Programm hatten. Ich machte mich innerlich bereit.
»Komm, meine topolina. Nur noch ein bisschen kuscheln.«
Was?
»Nein«, hörte ich Isabelles Stimme. »Lass mich. Mir ist schlecht.«
»Ach, dir ist schlecht. Eben ging es dir aber noch ganz gut.«
Stefano. Dieser widerliche Typ.
»Ich vertrage diese Haschzigaretten nicht. Mir ist schlecht davon geworden.«
Ich hatte sie ab und an rauchen gesehen, aber abgesehen davon, dass sie dann immer fremd roch, hatte ich noch nie bemerkt, dass ihr das Rauchen schlecht bekam.
»Von dem kleinen Joint? Warum kiffst du dann?«
»Ich wollte es eben auch mal ausprobieren.«
»Und zum Dank lässt du mich jetzt abblitzen? Komm schon, stell dich nicht so an.«
Lass die Finger von Isabelle!
»Hör auf, du tust mir weh. Du bist ja vollkommen daneben.«
Es klang nach einem Handgemenge. Jemand fiel auf das Bett. Es rumpelte noch einmal. Isabelle. Ich spürte ihren vertrauten Körper.
»Jetzt ziert sich die Kleine«, sagte Stefano höhnisch. »Ist doch immer dasselbe mit euch verklemmten Franzschößchen. Porca miseria! «
»Lass mich in Ruhe, du stronzo. Rauch deine
Weitere Kostenlose Bücher