Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Palatina …« Er holte Atem.
Ich hatte keine Vorstellung vom Ausmaß des Schadens, die Zahlen sagten mir nichts, außer, dass sie unglaublich hoch erschienen. Doch die bebende Stimme dieses Mannes unterstrich die Ernsthaftigkeit der Lage.
Selbst wenn Isabelle nur ein Abenteuer gesucht hatte, wartete hier doch eine echte Herausforderung auf sie.
Casamassima sprach weiter: »Schreibmaschinen, Stromversorgung, Aufzüge – alles ist kaputt. Ihre Aufgabe wird zunächst darin bestehen, den Schlamm zu entfernen, der sich wirklich bis in die hintersten Winkel unseres Gebäudes gedrückt hat. Nur damit Sie sich eine Vorstellung machen können: Auf einen Einwohner von Florenz entfällt dieser Tage ungefähr eine Tonne Schlamm. Feuchtigkeit ist der größte Feind von Papier, deshalb müssen die Räume so schnell wie möglich trocken gelegt werden. Fragen Sie mich nicht, wie lange das dauern wird – ich weiß es nicht. Wir werden Schritt für Schritt vorgehen. Die Räume müssen desinfiziert, die Bücher gereinigt, die Signaturen entziffert werden. Es ist kein Ende abzusehen.«
Er holte tief Luft. Die Gruppe schwieg ergriffen.
»Gehen wir an die Arbeit«, sagt er. »Florenz wird es Ihnen danken.«
Eimer und Schaufeln wurden verteilt, und die jungen Leute machten sich ans Werk. Den Rest des Tages bekam ich Isabelle nicht mehr zu Gesicht.
Ich war beeindruckt. Diese Katastrophe war anders als der Krieg. Ausnahmsweise waren die Menschen unschuldig an dem Unglück, das ihnen widerfahren war. Und es freute mein kleines Bärenherz zu sehen, dass Engländer und Deutsche, Italiener und Franzosen Seite an Seite standen und einander wortlos halfen.
Als Isabelle wieder auftauchte, war sie schmutzig und stank. Wäre ich nicht so ein massiver Gegner von Duschen und Baden gewesen, ich hätte vielleicht vorgeschlagen, sie solle sich säubern. Doch es gab kein sauberes Wasser in der Stadt, die Dreckbrühe aus dem Fluss hatte auch die Wasserversorgung lahmgelegt.
»Wenn Maman das wüsste«, sagte Isabelle und kicherte leise. »Die würde glatt in Ohnmacht fallen.«
Man kann bei deinem Geruch aber auch ohnmächtig werden …
Ich ahnte ja nicht, dass es noch viel schlimmer werden würde. Isabelle schrubbelte sich den getrockneten Schlamm aus dem Gesicht und ließ sich müde aufs Bett fallen.
»Mann, tut mein Rücken weh. Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalten kann. Ich bin fix und fertig.«
Ohne ein weiteres Wort, ohne Abendessen und ohne Zähne zu putzen kroch sie in den Schlafsack, nahm mich in den Arm und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Ich passte auf sie auf, überwachte ihre unruhigen Träume und versuchte, ihr Kraft für den nächsten Tag zu geben.
Graues Sonnenlicht fiel durch die von Dreck und Regen blinden Fenster der Bibliothek. Langsam erwachte das Helferheer um uns herum zu einem neuen Tag mit vollen Eimern und müden Armen. Schneller als ich es von Isabelle gewohnt war, schwang sie sich von ihrem Feldbett.
»Mon ami«, flüsterte sie mir ins Ohr, »das ist das größte Abenteuer, an dem ich je teilgenommen habe.«
Das kann ich mir vorstellen.
»Es ist so spannend, als wäre ich Schatzgräberin. Diese Bücher, weißt du, sie sind einmalig und unglaublich wertvoll. Man schaufelt, und plötzlich ist da ein schwerer Ledereinband, der so geheimnisvoll aussieht.«
Sie steckte mich in den noch bettwarmen Schlafsack, so dass gerade noch meine Nase herausschaute – vielen Dank auch –, schlüpfte dann in ihre Stiefel und gesellte sich zu ihren Freunden aus Paris.
Ich konnte sehen, wie sie am anderen Ende des Saals um einen kleinen Gasofen herumstanden, Konservendosen wurden erwärmt und Wein eingeschenkt.
Ich hörte die hohe Stimme des stets Bedenken tragenden Mädchens aus Paris:
»Gibt es keinen Kaffee? Ich kann doch so früh am Morgen keinen Wein trinken!«
»Ich fürchte, nein«, sagte ein junger Italiener. »Wir haben kein Trinkwasser. Aber du musst dir keine Sorgen machen, ein Schlückchen am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen – und Rückenschmerzen.«
Die Umstehenden lachten.
Ich dachte an den alten Brioche. Sicher hatte er das auch so gesehen. Vielleicht war an dieser Theorie ja etwas dran.
Isabelle schenkte sich beherzt ein und ließ ihre Tasse gegen die des jungen Italieners klingen.
»Na, darauf trinke ich«, hörte ich sie sagen.
Ich musste lächeln. Sie brauchte nie lange, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Wie gut, dass sie es von zu Hause gewohnt war, zum Essen Wein zu
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