Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
liebte das Zugfahren noch immer. Es war mir die liebste Art der Fortbewegung. Es schenkte einem Zeit.
Unterwegs hatte es kein anderes Gesprächsthema gegeben als die Flut. Alle redeten durcheinander, und ich versuchte verzweifelt, mir einen Reim darauf zu machen.
Hatten sie auch alles Wichtige mitgenommen? Brauchten sie wirklich einen Schlafsack? Würden sie tatsächlich helfen können? Was würden ihre Aufgaben sein? Was erwartete sie? Verstand wohl irgendjemand Französisch? Wo war der Schaden am schlimmsten? Langsam schien ihnen zu dämmern, wie unvorbereitet sie in ihrem Enthusiasmus aufgebrochen waren. Sie waren nervös.
Ich war sehr dankbar, als einer der Jungen das Wort ergriff und ein wenig Licht ins Dunkel brachte.
»Hört mal, was die Zeitung schreibt«, sagte er, und seine Stimme übertönte das rhythmische Rattern des Zuges:
»Bis zu sechs Meter hoch stand das Wasser in den Straßen, als in der Nacht zum 4. November der Arno über seine Ufer trat. Das Land war in Feierstimmung, denn der 4. November ist für die Italiener der Tag des Sieges. 1918 endete an diesem Tag für Italien der Erste Weltkrieg. Doch bald war in Florenz niemandem mehr nach Feiern zumute. In der Nacht gegen halb drei überflutete der Arno das Stadtviertel Nave a Rovezzano. Eine drei Meter hohe Flutwelle ließ zunächst das Viertel Gavinana, kurz darauf auch San Niccolò im Wasser versinken. Am Morgen des 4. Novembers um halb sieben erreichte der Arno Santa Croce und richtete auch dort verheerenden Schaden an. Privathäuser, Geschäfte, Museen, Kirchen und Bibliotheken hielten dem Wasser nicht stand. Eine Stunde später – Punkt 7:26 Uhr – fiel der Strom aus, noch Tage später zeigten alle elektrischen Uhren die gleiche Uhrzeit an. Es ist die größte Katastrophe seit Hunderten von Jahren, die Florenz am 4. November rammte. Wirtschaftlich sind die Konsequenzen für Italien vermutlich kaum tragbar – ganz abgesehen von dem Sachschaden, der für Kunst und Kultur entstanden ist.
Die Florentiner Zeitung »La Nazione« meldet, dass sich 45 bis 50 Millionen Kubikmeter Wasser über die Stadt ergossen haben. Zahlreiche Geschäfte stehen vor dem Ruin, und Privathäuser sind unbewohnbar geworden. Die Ladeninhaber auf dem Ponte Vecchio können ihre Waren nur noch irgendwo in den Fluten vermuten – ganze Schränke, Regale und sogar Tresore sind einfach fortgespült worden. Vor allem aber sind die Museen und Bibliotheken betroffen. Der Schaden, den Schlamm, Wasser und Öl angerichtet haben, ist noch nicht zu beziffern. Nach ersten Erkenntnissen sind zwei der weltweit berühmtesten Kunstschätze schwer in Mitleidenschaft gezogen: Das »Abendmahl« von Taddeo Gaddi ist schwer beschädigt, ebenso das über vier Meter große Kruzifix von Cimabue aus dem 13. Jahrhundert. Doch das sind nur Beispiele für die Verwüstung, die die Wasser des Arno angerichtet haben. Bislang ist unklar, wie die Stadt dieser Katastrophe Herr werden soll. »Es herrscht Ausnahmezustand«, sagt ein Sprecher der Stadtverwaltung. »Die Versorgungslage ist angespannt, das Trinkwasser ist in hohem Maße verunreinigt und die Kanalisation ist dem Druck nicht gewachsen. Kadaver von ertrunkenen Tieren verbreiten zudem Seuchengefahr. Wir sind für jede helfende Hand dankbar und nehmen Spenden sowie Unterstützung gerne an. Es ist eine Schande mitanzusehen, wie das Erbe der europäischen Kultur unrettbar im Schlamm zu verschwinden droht.«
Die jungen Leute schwiegen. Ich war ebenfalls sprachlos. Dies schien wirklich eine verheerende Katastrophe zu sein, und sie war augenscheinlich aus der Natur entstanden. Die Menschen schienen diesmal nicht dafür verantwortlich zu sein.
»Es ist richtig, dass wir fahren«, sagte ein Mädchen mit hoher Stimme. »Es ist unsere Aufgabe als Kunsthistoriker, unsere Forschungsobjekte zu retten. Worüber sollen wir denn promovieren, wenn nicht über die großen Meister?«
Beifälliges Gemurmel ertönte.
»Endlich macht unser Studium einen Sinn«, sagte Isabelle. »Ich bin ein Mensch der Praxis. Jetzt kann man wenigstens mal was Richtiges tun.«
Schon am Bahnhof hatten sie ihre Gummistiefel ausgepackt. Im Rucksack hockend hörte ich Isabelles Stimme. Sie schien zu wissen, wo es langging.
»Wir müssen hier entlang, runter zum Fluss. Ich finde, wir sollten unbedingt den Ponte Vecchio ansehen, bevor wir zur Biblioteca Nazionale gehen.«
»Kann man da denn einfach so hin?«, fragte das Mädchen mit der hohen Stimme jetzt ängstlich. »Ist das
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