Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Joints doch mit einer anderen.«
Ich hatte nicht gewusst, dass Isabelle italienische Schimpfwörter beherrschte. Bravo! Bravo!
Er beugte sich über sie. Ich hörte ihre Stimmen ganz nah.
»Du hast mir die Tour vermasselt«, sagte er leise und drohend. »Tu so was nicht noch einmal, das rate ich dir.«
Ich hörte den heftigen Atem der beiden. Isabelle hatte Angst, das spürte ich genau. Warum haute er nicht endlich ab?
»Dabei hast du so süße, kleine Brüstchen«, fuhr er zischend fort. »Viel zu niedlich eigentlich, um nicht …«
Ich hörte, wie er sich an Isabelles Kleidung zu schaffen machte.
»Nein, nicht!«, hörte ich ihre erstickte Stimme. »Lass das!«
» Vaffanculo! «, rief plötzlich eine Stimme aus der Nähe dazwischen. »Lascia la ragazza in pace! «
»Scheiße«, zischte Stefano und ließ von Isabelle ab. »Scheiße.« Und er schubste sie hart zurück, als sie sich aufsetzen wollte. »Putana!«
Als er im Dunkeln verschwunden war, richtete sie sich langsam auf und starrte in die Finsternis hinter ihm her. Dann ließ sie sich aufs Bett sinken, nahm mich in den Arm und begann tonlos zu weinen.
»Nichts ist dran an diesen Machos. Rein gar nichts«, schniefte sie in mein Ohr. »Ich wollte doch nur mit ihm essen gehen.«
Du liebes Lämmchen.
»Und überhaupt. Wir sind doch alle hier, um zu helfen. Wer erwartet denn so einen?«
Ich konnte ihr darauf keine Antwort geben. Niemand erwartet je, dass ihm Böses angetan werden könnte, und doch geschieht so viel. Nicht alle tragen Gutes im Herzen, das wusste ich spätestens, seit ich Brioche kennengelernt hatte.
Erschöpft schlief Isabelle ein, ohne sich zuzudecken. Ich versuchte sie warmzuhalten, so gut es ging.
Versteh einer die Menschen, dachte ich. Das hat doch alles mit Liebe nichts zu tun.
Am nächsten Morgen quälte sich Isabelle aus dem Bett. Ihre Lider waren geschwollen, und ich merkte, dass ihr sämtlicher Elan abhandengekommen war. Lustlos zog sie sich an. Meine kleine Isabelle, sie hielt sich tapfer.
Vom Bett aus beobachtete ich das Geschehen in der provisorischen Küche. Stefano hielt ein Glas Wein in der Hand und lachte laut über einen Witz, den er selbst gemacht hatte. Er würdigte Isabelle keines Blickes, kniff eine andere in den Po und versprühte seinen öligen Charme.
Isabelle drückte sich schnell an ihm vorbei. Aus der Hosentasche nestelte sie eine Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Entsetzt sah ich ihr nach. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihr außer mir noch jemand hinterherblickte.
Mir kam es vor, als lebten wir schon ewig in dieser merkwürdigen Welt aus Dreck und kalter Luft. In einer Atmosphäre, die aufgeladen war von Euphorie, von Entschlossenheit und Kampfgeist.
Die »Engel des Schlamms« wurden eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie aßen und tranken zusammen, sie schliefen in einem Raum und lebten nach ihren eigenen Regeln. Es schien, als fühlten sie sich wirklich wie Engel. Sie schwebten über den Dingen, und über ihnen der Heiligenschein des freiwilligen Helfers. Florenz lag ihnen zu Füßen.
Isabelle hatte sich dank der engen Gemeinschaft schnell wieder gefangen. Sie behandelte Stefano wie Luft und ging stolz und mit erhobenem Haupt an ihm vorüber. Sie ignorierte ihn, ehe er sie ignorieren konnte. So leicht ließ sich Mademoiselle Marionnaud nicht demütigen. Nicht von so einem … na ja. Mit den anderen Helfern diskutierte sie nächtelang darüber, ob die Rolling Stones oder die Beatles bessere Musik machten (wir waren für die Beatles) und ob Truffauts Filme sehenswert oder unsinnig seien (wir fanden sie sehenswert). Gemeinsam wetterten sie gegen Kapitalismus und den Vietnamkrieg (von Kapitalismus verstand ich nichts, und ich hatte keine Ahnung, wo Vietnam war. Ich weiß es, ehrlich gesagt, bis heute nicht genau, aber ich hätte nie erwartet, dass nach den schrecklichen Vierzigerjahren noch irgendein Land jemals wieder freiwillig in den Krieg ziehen würde – ist mein Bärenhirn so einfältig, oder sind es die Menschen?). Die Themen gingen diesen jungen Leuten in diesen kalten Florentiner Winternächten nie aus, und ich lauschte mit offenen Ohren. Ich bewunderte sie. Sie hatten so viel Kraft und Energie.
Unermüdlich schaufelten sie Schlamm. Aus dem Erdgeschoss drangen ihre lauten Rufe herauf zu mir, während ich dieses Meer aus verlassenen Betten überwachte.
»Wir bilden eine Kette«, rief jemand. »Reicht die Eimer durch. Hey you, send the bucket over here! Move on, move
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