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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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nicht gefährlich?«
    »Das werden wir ja sehen«, antwortete Isabelle. »Wir müssen sowieso dort vorbei. Es liegt sozusagen auf dem Weg.«
    Die Gruppe machte sich auf den Weg. Es wurde wenig gesprochen, manchmal sagte jemand: »Schaut euch das an.« Und: »Ach du lieber Himmel.« Das Einzige, was ich wahrnehmen konnte, war der zunehmende Gestank. Je näher wir dem Fluss kamen, umso schlimmer wurde es.
    »Oh, Gott, da schwimmt ein totes Pferd«, rief plötzlich eines der Mädchen erschrocken aus. »Das ist ja ekelhaft. Bah, wie das stinkt!«
    Sie blieben stehen. Ich hörte das wilde Rauschen von Wasser. Wir schienen den Arno erreicht zu haben.
    »Unfassbar«, sagte ein Junge. »Guckt mal, die kleinen Läden auf der Brücke, die haben gar keine Wände mehr. Alles einfach weggespült.«
    Laute italienische Stimmen drangen an mein Ohr. Menschen riefen durcheinander, und die Verzweiflung in ihren Stimmen glich jener, die ich aus Kriegstagen kannte, wenn die Menschen nach einem Bombenangriff ihr Haus nicht wiederfanden.
    An Isabelles Schritten merkte ich, wie fassungslos sie sein musste. Sie zögerte immer wieder, ging drei Meter, blieb erneut stehen. Ich brannte darauf, mir selbst ein Bild davon zu machen, wie es um uns herum aussah.
    Wir bezogen Quartier im zweiten Stock der Biblioteca Nazionale Centrale. Unser Lager war ein Feldbett. Isabelle setzte mich auf das kleine Kissen, das sie mitgenommen hatte, und rollte ihren Schlafsack aus. Ich schaute mich um. Der Raum war unendlich hoch, die Fenster ebenso, es war ein Bibliothekssaal, zweckentfremdet und vollgestellt. Betten, so weit das Auge reichte, Taschen, Gerümpel, Flaschen, Dosen, alles lag durcheinander. Isabelle hatte sich ein Bett in einer der hinteren Ecken ausgesucht. Ich wusste genau, dass sie nicht gut schlief, wenn viele Menschen um sie herum waren. Sie hatte einen leichten Schlaf. Überall saßen Gruppen von Frauen und Männern, ein babylonisches Stimmengewirr hallte von den Marmorwänden wider.
    Ich hörte Französisch, Deutsch, Italienisch, Englisch, Holländisch und sogar Norwegisch. Ich horchte auf. Die Stimme gehörte einer jungen Frau Ende zwanzig. Vielleicht knapp dreißig. Guri, dachte ich. Guri. Das würde zu ihr passen, hier in Italien zu sein. Es würde zu ihr passen, mich wiederzufinden. Ich versuchte, sie genauer zu erkennen, doch sie wandte mir den Rücken zu. Ich konnte nichts sehen. An diesem Tag nicht und auch nicht am nächsten. Am dritten Tag war sie plötzlich weg.
    Während mich noch die Stimme der Norwegerin beschäftigte, zog Isabelle ihre Wollsocken an, ihre alte Jeans, den dicken Pullover und dann wieder die Gummistiefel. Sie lehnte sich zu mir herüber und sagte leise:
    »Mon ami, es sieht aus, als wären wir mal wieder schneller als die Feuerwehr. Hier werden wir gebraucht.« Mit diesen Worten stand sie auf und schloss sich ihrer Gruppe an, die von einem Herrn in Latzhose und Regenmantel begrüßt wurde. Er versuchte es international.
    »Buongiorno, hello. Meine Name ist Ugo Procacci, ich bin die Generaldirektor von Uffizien, und es ist mein Aufgabe, ein wenig Ordnung in diese Chaos zu bringen. Ich möchte nur sagen Ihnen, wie froh und dankbar ich bin, dass Sie auf sich genommen haben diese Reise, um die Kunst zu retten. Es ist viel schwere Arbeit. Meine Kollege von Bibliothek wird genau erklären, was Sie müssen tun. Ich danke Ihnen. Wirklich. Sie sind für uns rettende Engel. Angeli del fango. Danke, grazie.«
    Die Gruppe klatschte, und ein anderer Mann trat vor, er sah müde aus.
    »Guten Tag, ich bin Direktor Emanuele Casamassima. Diese Bibliothek ist eine der wichtigsten in Italien. Sie ist mein Leben. Ich habe viele Jahre in den Aufbau unserer Sammlung investiert, und ich werde nicht eher ruhen, als ich die unermesslichen Werte, die sich hier versammeln, einigermaßen in Sicherheit weiß. Jedem Einzelnen von Ihnen werde ich bis an mein Lebensende dankbar sein, für Ihren Einsatz und Ihre Bereitwilligkeit zu helfen. Das Erdgeschoss von über dreitausend Quadratmetern ist bei der Flut komplett überschwemmt worden, der erste Stock stand noch bis vor wenigen Tagen eineinhalb Meter unter Wasser. Grob geschätzt sind ungefähr 1,2 Millionen Bände beschädigt, darunter hunderttausend Bände der wertvollen Magliabecchi-Sammlung. Unser Katalog mit fast acht Millionen Karteikarten ist so gut wie unleserlich. Dazu kommen unsere Zeitungssammlung mit über vierhunderttausend Zeitungen und fünfzigtausend Folio-Bände der

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