Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
on!«
»Nicht so schnell!«, rief ein anderer. »Die Mädels können nicht so schnell.«
»Was? Sag das noch einmal!«, rief ein Mädchen empört.
»Das schwache Geschlecht kann nicht so schnell!«
»Hier kannst du mal sehen, wer das schwache Geschlecht ist!«
Lachen ertönte, dann ein Schrei und bald darauf ein wildes Durcheinander aus Stimmen – sie kreischten und lachten.
Was machten sie denn da? Es hörte sich wirklich so an, als bewarfen sie sich mit Schlamm.
»Pfui, nicht ins Gesicht, du Ferkel!«, hörte ich die Fistelstimme.
Dann Isabelle: »Das wirst du mir büßen! Da!«
Ob das an Stefano gerichtet war? Ich hoffte es. Dreck sollst du fressen, der du es wagst, dich an meiner Isabelle zu vergreifen.
Die Stimme von Direktor Casamassima machte dem Spuk ein Ende.
»Bitte, bitte, Signori, meine Herrschaften, bitte«, rief er. »Es geht um die Literatur. Bitte!«
Das Lachen erstarb. Schade, es hatte so ausgelassen geklungen. Doch der Direktor war streng. Bald war das kratzende Geräusch der Schaufeln wieder zu hören. Sie waren zurück an die Arbeit gegangen.
»Wir sind die Helden von Florenz, ohne uns wären sie doch vollkommen aufgeschmissen«, meuterte ein Engländer mit tiefer Stimme. »Da wird man doch wohl mal ein bisschen Spaß haben dürfen!«
So schnell wird aus Hilfsbereitschaft Überheblichkeit, dachte ich.
»Ich finde, er hat recht. Wir sind ja nicht im Arbeitslager«, schloss sich ein Mädchen an.
Gemurmel wurde laut.
»Nein. Wir tun das freiwillig«, sagte ein Italiener. »Und wer keine Lust mehr hat, kann ja gehen.«
»Dann los, Batman«, erwiderte der Engländer trocken. »Es gibt noch einen Haufen Bücher zu retten.«
Was war passiert? War ihnen der Ruhm zu Kopf gestiegen? Ich fragte mich, wie Isabelle, die Abenteurerin, die Sache sah. Doch die hatte schon etwas ganz anderes im Kopf.
Wenn Zeit und Kraft es irgendwie zuließen, nahm Isabelle ihren kleinen Block und ihren Bleistift hervor und zeichnete. Sie hatte alle wichtigen Ereignisse in ihrem Leben aufs Papier gebannt, in kräftigen Farben oder leichten Schraffuren. Mit hochgezogenen Knien saß sie dann auf ihrem Bett und warf in schnellen Strichen Skizzen auf den Block. Florenz hatte viele Eindrücke zu bieten.
Sie zeichnete einen Holzstuhl, der einsam in den riesigen spiegelnden Pfützen auf der Piazza dei Cavalleggeri stand, und betitelte das Bild »Atempause«. Sie zeichnete einen VW-Käfer, der sich um den Fuß einer großen Marmorstatue wand, die Kofferraumklappe offen stehend wie ein Fischmaul, das Reserverad wie dicke Beute darin. »Verkehrsfluss« schrieb sie darunter. Besonders aber beeindruckte mich das Bild von zwei Männern. Sie saßen mitten im Fluss unter einer Brücke. Der eine auf der Lehne eines halb ertrunkenen Stuhls, der andere auf einem schiefen Tisch. Sie trugen Taucherbrillen und Flossen und schienen etwas zu begutachten, was sie in den braunen Tiefen des Arnos gefunden hatten. »Perlentaucher«, hatte Isabelle daruntergeschrieben.
An einem anderen Tag fertigte sie eine Skizze, die eine Brücke mit zahlreichen kleinen Häuschen zeigte. Die Fenster waren zerborsten. Stofffetzen hingen herunter, Teppiche und allerlei Einrichtungskrempel. »Hochwasserkonjunktur«, stand daruntergeschrieben. Mich erinnerte es an die zerbombten Häuser in Köln.
Dann zeichnete sie eine Karikatur – mit wütenden schnellen Strichen, knapp und sicher. Es war der schöne Stefano. Sein lockiges Haar sah klebrig aus, seine Nase viel zu lang, und aus seinem Mund hing lechzend die Zunge. Das war Isabelles Art, mit den Dingen fertig zu werden. Stefano bekam sein Fett weg – auch ohne dass sie ihn öffentlich an den Pranger stellte.
Das letzte Bild war ein richtiges Porträt. Ich war überrascht. Das Gesicht war mir bekannt. Es gehörte diesem jungen Italiener, der zwei Tage nach uns gekommen war und ein Bett drei Reihen weiter bezogen hatte. Seine feinen Züge versteckten sich hinter einer schwarzen Brille und kamen nur zum Vorschein, wenn er zu Bett ging und die Brille sorgsam zusammenklappte, ehe er sie neben sein Kopfkissen legte. Seine Nase war schmal, die Wangenknochen waren hoch und seine Lippen fast mädchenhaft geschwungen.
Isabelle hatte ihn mit Brille gezeichnet, dennoch war es ihr gelungen, seinen Gesichtsausdruck einzufangen. Das Haar hing ihm in langen Fransen bis über die Augen, die den Betrachter nachdenklich ansahen. »Gianni« war der Titel. Sonst nichts. Sicher hatte sie ihn nicht ohne Grund gezeichnet.
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