Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
wie früher. Denn meine Zuneigung zu Leo war versiegt. Und als klebte an mir das Pech seiner Tat, mied auch er mich. Schweigend ließ er Lili den Vortritt, die mich mit Freuden unter ihre Fittiche nahm. Ich hasste Leo nicht. Doch verzeihen konnte ich ihm auch nicht. Damals nicht. Das Herz eines Bären ist eben doch größer als sein Verstand.
Victors zweite große Leidenschaft neben Büchern galt der Ingenieurskunst. Im Jahr 1923 zog er sich fast jeden Abend in sein Arbeitszimmer zurück, um an einer Biografie über Englands großen Pionier Isambard Kingdom Brunel zu schreiben.
»Ihr glaubt gar nicht, was Brunel alles vollbracht hat!«, konnte er beim Essen unvermittelt herausplatzen. »Eisenbahnen, Schiffe, alles, was für uns selbstverständlich ist, hat er gebaut. Er war ein Visionär. Wie ich – nur viel kleiner.«
Emily musste lächeln über so viel Übermut.
Schiffe kannte ich lediglich aus Büchern und dem Kinderzimmer. Ich wusste, dass sie dazu dienten, die großen blauen Flächen auf dem Globus zu überqueren. Sie schwammen auf dem Meer.
Bei unseren Expeditionen hatten Leo, Lili und ich in selbst gebauten Segelschiffen zahlreiche Ozeane überquert und ferne Inseln angesteuert.
»Ich bin Magellan!«, rief Leo dann. »Leinen los für den Entdecker!«
»Können wir nicht lieber Kolumbus sein?«, fragte Lili. »Der ist wenigstens nach Amerika gefahren.«
»Aber nur aus Versehen«, wandte Leo ein. »Magellan wusste immerhin, was er tat.«
Dann war er Magellan und sie war Kolumbus, und ich war Smutje auf dem einen, Steuermann auf dem anderen Schiff, während wir im Wettrennen und in den tollsten Fahrzeugen die Welt entdeckten. Doch wie so ein Ozeanriese in Wirklichkeit aussah, konnte ich mir kaum vorstellen.
Es muss irgendwann im Oktober gewesen sein, lange nach dem großen Krach, dass Victor eines Abends ein feierliches Gesicht aufsetzte, den Rücken streckte und sagte:
»Leo, Lili, ich habe eine Mitteilung zu machen. Wir werden auf Brunels Spuren wandeln!«, verkündete er, und seine Augen leuchteten, als er den Satz ausgesprochen hatte.
»Wir folgen der Great Eastern.«
»Australien?«, hauchte Leo. »Die Strafkolonien?«
»Wie du weißt, mein Sohn, hat die Great Eastern es nie nach Australien geschafft, da die Häfen zu klein waren, für dieses vollkommene Schiff. Nein. Wir fahren nach New York!«
Lili und ich diskutierten nächtelang über das uns bevorstehende Abenteuer.
»Weißt du, Puddly, New York ist riesig. Noch größer als London, und die Häuser sind viel höher«, versuchte sie mich neugierig zu machen.
Hm.
»Wir werden bei Onkel Max und Tante Frances wohnen. Ihre Dienstboten sind Neger!«
Was sind denn Neger?
»Wir werden fünf, vielleicht sogar sechs Tage über das Meer fahren. Immer nach Westen. Zwischen Southampton und New York gibt es nur Wasser. Sonst nichts!«
Haben wir denn alle Platz auf diesem Schiff ?
Ich sah sie mit großen Augen an. Unglaublich, dass wir so einen irrsinnigen Plan wahrhaftig in die Tat umsetzen wollten. Es erschien mir geradezu verrückt.
Immer wieder hatten wir in Reiseberichten gelesen, wie beengt die Verhältnisse auf den Expeditionsschiffen gewesen waren. In Hängekojen hatten die Männer abwechselnd geschlafen, weil es nicht genug Platz für alle gab. Doch es stellte sich bald heraus, dass meine Sorge unbegründet war.
»Wir fahren mit der RMS Majestic«, erklärte Victor am Abend. »Ein Schiff der Imperatorklasse, ist das nicht phantastisch?«
»Das hört sich an, als sei es ein Kriegsschiff«, erwiderte Emily, die der Reise als Einzige mit Zweifeln entgegensah.
»Mitnichten, mein Liebes, mitnichten. Es ist das größte Luxuspassagierschiff der Welt.«
»Haben sie das über die Titanic nicht auch gesagt?«, fragte sie besorgt.
»Ich bitte dich, die Titanic ist doch Schnee von gestern. Du glaubst nicht, wie sich die Schifffahrt in den letzten zehn Jahren entwickelt hat! Noch so ein schlechtes Schiff würde die White Star Line gar nicht verkraften.«
»Wie bitte? Es gehört zur selben Flotte? Victor, ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist …«
Doch wir waren der Ansicht, dass es eine besonders gute Idee war.
Leo war Feuer und Flamme. Er hatte alles über das Schiff in Erfahrung gebracht, fast hätte ich mich dazu hinreißen lassen, ihn wieder ein kleines bisschen mehr zu mögen, so gut stand ihm der Eifer, mit dem er sich auf die Reise vorbereitete.
»Stell dir vor, Mum: Viertausend Passagiere und
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