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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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eintausendzweihundert Mann Besatzung haben auf der Majestic Platz. Umwerfend, oder? Sie ist so groß wie eine ganze Stadt!«
    Emily sah beunruhigt vom einen zum anderen.
    »Es ist mir unerklärlich, wie eine solche Stadt schwimmen soll. Wirklich.«
    Insgeheim hatte ich mir diese Frage ja auch schon gestellt, aber ich hätte es natürlich nie laut gesagt – dazu war meine Neugier dann doch viel zu groß.
    Weihnachten verging in diesem Jahr nahezu unbeachtet. Jeder bekam etwas Nützliches für die Reise, und, man glaube es oder nicht, ich erhielt einen Regenmantel.
    Am 30. Dezember 1923 machten sich schließlich fünf Menschen und ein Bär auf den Weg nach Southampton. James begleitete uns, darauf hatte Emily bestanden. Außer James begleiteten uns drei große Überseekoffer, unzählige Hutschachteln, ein Koffer aus Krokodilleder, in dem Victor seine Bücher transportierte (natürlich nur die wichtigsten), ein Koffer aus braunem Rindsleder, in dem die Kinder ihre Spielsachen transportierten (natürlich auch nur die wichtigsten), eine Leinentasche mit Lederhandgriffen und ein Köcher für Tennisschläger. James trug einen kleinen, alten Koffer, den er sich eigens für die Reise von Mary Jane geliehen hatte, die vor acht Jahren einmal nach Frankreich gefahren war, weil sie dort an der Front als Krankenschwester Dienst tat.
    Ich reiste ohne Gepäck, mein einziges Kleidungsstück, den Regenmantel, trug ich bereits, mehr brauchte ich ja auch nicht.
    Es war ein kalter Tag. Der Wind blies heftig von See, als wir in Southampton aus dem Wagen stiegen. Mein Fell sträubte sich in der nasskalten Luft, und ich muss sagen, der Mantel war nicht überflüssig. Unter Regenschirme gedrängelt, warteten wir, bis der Fahrer das Gepäck ausgeladen hatte. Ein Bediensteter der White Star Line eilte mit einer Karre herbei und nahm sich unserer Sachen an.
    Aber wir alle kümmerten uns wenig um das Wetter, denn vor unseren Augen erhob sich mächtig und äußerst beeindruckend die RMS Majestic und machte ihrem Namen alle Ehre. Was für ein Schiff! Es war so groß, dass man von der Spitze aus sein hinteres Ende nicht sehen konnte.
    Am Pier herrschte emsige Geschäftigkeit. Das Treiben in Paddington Station schien lächerlich im Vergleich zu den Menschenmengen, die hier durcheinanderliefen. Kofferträger, Chauffeure, Familien, die Abschied nahmen. Matrosen, Hafenarbeiter, Offiziere – es war alles vertreten. Überall flatterten rote Fahnen mit weißem Stern. Laut kreischten die Hupen der Automobile, gerufene Befehle übertönten das Stimmengewirr der Passagiere, da erschallte plötzlich dröhnend und alldurchdringend das Horn des Schiffes. Es klang wie der lang gezogene Ruf eines Giganten. Die Nervosität stieg, die Passagiere drängelten sich den Landungssteg hinauf, schlängelten sich zwischen Koffern und Stewards hindurch an Bord dieses riesigen Schiffes.
    Doch Lili hielt mich fest im Arm, und ich wusste, dass ich dieses Mal keine Angst haben musste, verloren zu gehen. Sie würde darauf achten, dass ich stets an ihrer Seite war. Und daran, wie wild ihr kleines Herz klopfte, wie eisern sie mich umklammerte, merkte ich, dass meine Gegenwart ihr ebenso viel Halt gab wie umgekehrt.
    Ehrfurchtsvoll, mit gebührendem Respekt in den Knochen und klein wie die Ameisen, stand die ganze Familie Brown am Pier und schaute noch einmal hinauf. Der eiserne schwarze Rumpf des Schiffes erhob sich vor uns wie der mächtige Körper eines Hochhauses, und irgendwo, weit oben, fast in den Wolken, thronten die weißen Aufbauten. Wir sahen die Leute, die bereits an Bord gegangen waren, wie kleine Punkte auf den oberen Decks, und noch höher, über ihren Köpfen ragten drei riesige Schornsteine in die Luft. Schwarzer Qualm stieg aus ihnen auf und zog nach Osten.
    Wir waren starr vor Erstaunen. Auch Victor. Emily fand als Erste die Sprache wieder.
    »Leo, mein Engel, über wie viele Rettungsboote verfügt diese schwimmende Stadt noch gleich?«, fragte sie und versuchte dabei ganz unbesorgt auszusehen.
    »Liebes«, ging Victor dazwischen, ehe Leo sein Wissen anbringen konnte, »selbst wenn wir einen Eisberg rammen sollten, was wir natürlich nicht tun werden, musst du dir keine Sorgen machen. Uns steht ein Platz im Rettungsboot zu. Wir reisen Erster Klasse.«
    Lili kicherte ungehörig, und ihr Vater zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
    »So«, sagte er, »und nun trödeln wir nicht länger und gehen an Bord. Wir wollen doch Onkel Max keinen Ärger machen und das Schiff

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