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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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ärgerlich zusammenzuziehen. Dieser Zug verschwand auch später nicht wieder. Leo blieb ein zorniger Junge.
    »Wenn du nicht sofort kommst, sage ich Daddy, dass du und James euch geküsst habt.«
    »Leo!«
    »Du weißt genau, dass das verboten ist.«
    »Und Sie wissen genau, dass das nicht wahr ist«, flüsterte Cathy.
    »Das ist mir egal. Was meinst du wohl, wem Daddy glaubt?«
    Langsam, schweigend und ohne Leo eines Blickes zu würdigen, stieg Cathy von der Leiter. Sie drückte James die zerknüllte Zeitung in die Hand, strich sich die Schürze glatt und ging aus dem Zimmer. James verschwand nach unten. Leo blieb zurück und ließ sich aufs Sofa fallen. Zwei Zentimeter neben mich. Ich hüpfte ein wenig nach oben und landete auf der Seite.
    Er nahm mich in die Hand und hielt mich von sich.
    Hätte ich gekonnt, ich hätte den Blick abgewendet. Ehrlich. Ich war angewidert vom Verhalten dieses Jungen, den ich so gut zu kennen glaubte, den ich in mein Herz geschlossen hatte.
    »Das hat sie davon«, sagte er und starrte mir in die Augen. Spucke flog mir ins Gesicht, so wütend sprach er die Worte aus.
    Ich war entsetzt.
    Was hast du angerichtet, du kleiner Teufel? Hast du vergessen, dass Cathy alles für dich tut? Du hast sie erpresst. So etwas tun nur Schurken.
    Er starrte mich hasserfüllt an.
    Seit ich Alice verloren hatte – und das war inzwischen eine Weile her –, hatte ich die Liebe nicht mehr so sehr gespürt wie in jenem Moment. Meine Cathy! Mit welchem Recht kommandierte der Junge sie auf diese Weise herum? Ausgerechnet Leo, der sonst immer als Erster darauf pochte, wenn etwas ungerecht war, benahm sich schlicht und ergreifend gemein. Ich war mir sicher, dass so ein Verhalten von seinen Eltern niemals toleriert worden wäre. So hatten sie ihre Kinder nicht erzogen.
    Der kleine Leo war in die Falle getappt, die ihm von Geburt an gestellt war. Es war Victor nicht gelungen, den Jungen davon zu überzeugen, dass alle Menschen gleich sind, denn das Leben führte ihm tagtäglich das Gegenteil vor. Es gab sehr wohl einen Unterschied! Er durfte bestimmen, und andere hatten seinen Befehlen zu gehorchen. Plötzlich schien er diese Regelung gar nicht mehr so schlecht zu finden. Ich glaube, für ihn war es glasklar: Cathy gehörte nach unten, Leo nach oben. So waren sie eben geboren – die eine unten, der andere oben.
    Im Gegensatz zu Leo begriff ich damals den Unterschied nicht. Ich dachte, Cathy wolle downstairs leben. Ich dachte, sie hätte es sich so ausgesucht. Mir war nicht klar, dass es Menschen gab, die keine Wahl hatten, und dass Cathy eine von ihnen war. Alle Menschen hatten doch zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und eine Nase im Gesicht. Ich weiß bis heute nicht, woran man da erkennen soll, ob einer besser oder schlechter als der andere ist. Heute ahne ich es (was allerdings nicht heißt, dass ich die Gründe dafür verstehe, noch dass ich es gutheiße). Es scheint etwas zu sein, das ich nicht sehen kann. Etwas in den Köpfen der Menschen. Die meisten Dinge, die mir auch nach über achtzig Jahren noch schleierhaft sind, finden in den Köpfen der Menschen statt.
    Als Cathy nach weniger als zwei Minuten mit dem Tennisschläger in der Hand zurückkam, saß Leo unverändert da. Die große Standuhr tickte, von draußen drang das aufgeregte Geschrei der Spatzen herein. Ansonsten herrschte Stille. Aufgeladene Stille. Sie legte den Schläger auf den Tisch.
    »Bitte schön. Er lag neben dem Bett.«
    »Ich brauch ihn nicht mehr. Keine Lust«, sagte er.
    »Bin ich umsonst gegangen?«
    »Sieht so aus.«
    Cathy senkte den Kopf. Ich sah, wie die Wut in ihr hochstieg. Doch sie verbiss sich jeden Kommentar und ließ sich die Demütigung durch den Zehnjährigen widerspruchslos gefallen.
    Was ist denn? Wehr dich doch! Du wirst doch nicht zulassen, dass dir so eine halbe Portion auf der Nase herumtanzt.
    »Dann bringe ich ihn jetzt wieder nach oben«, sagte sie still.
    »Nein.«
    »Doch, das werde ich. Ich habe den Auftrag, den Salon aufzuräumen. Sie wissen, dass Ihre Eltern Gäste erwarten.«
    »Wenn du das tust, dann …« In Leo kochte der Zorn erneut hoch.
    Bis heute frage ich mich, was an diesem Nachmittag in den Jungen gefahren ist. Er liebte Cathy, ich wusste das ganz genau. Sie sorgte für ihn, half ihm mit kleinen Notlügen aus der Patsche, zwinkerte ihm verschwörerisch zu, wenn sie mal wieder heimlich eine kaputte Hose gerettet hatte, und opferte manchmal sogar ihre spärliche Freizeit, um mit ihm Werfen zu üben.

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