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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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verpassen. James, seien Sie gut, nehmen Sie meiner Frau die Tasche ab. Darf ich dir meinen Arm anbieten, Emily?«
    Sie hakte sich bei ihm unter, und wir stiegen die Gangway hinauf. Die beiden vorweg, Emily links von Victor, in der linken Hand den Regenschirm, dahinter Lili, ich und Leo und als Schlusslicht James, der aufpasste, dass nichts und niemand verloren ging.
    Wir bezogen zwei Kabinen Erster Klasse, vier von vierhundertachtzig First-Class-Passagieren und meine Wenigkeit als blinder Passagier. James wurde in der Zweiten Klasse untergebracht, ein paar Decks tiefer und weiter achtern. Wir haben ihn dort allerdings nie besucht, ich kann also nicht sagen, wie es dort aussah.
    Seit der Sache mit Cathy wunderten mich solche Ungleichheiten nicht mehr. Ich hatte verstanden, dass es mir unerklärliche Regeln gab, die dafür sorgten, dass nicht jeder Mensch die gleichen Rechte genießen durfte. Ich schien allerdings nicht der Einzige zu sein, dem diese Regeln missfielen.
    Als Lili mit ihrer Mutter eine Diskussion darüber anfangen wollte, warum James nicht mit uns in der Ersten Klasse reiste, wurde Emily ärgerlich und schnappte kurz angebunden:
    »Er kann froh sein, dass er nicht nach unten in den Maschinenraum muss. Dort hat er nämlich keine Chance, wenn wir untergehen.«
    Anschließend zog sie sich zurück und hatte Migräne. Aber nur bis zum Dinner.
    Unter dem lauten Tuten der Schiffssirenen wurden die Leinen gelöst, winzig kleine Schlepper stampften uns voran und zogen das majestätische Ungetüm aus dem Hafen. Am Kai standen die Menschen und winkten, Hüte flogen in die Luft, die der Wind in Böen frech davontrug.
    Als die schweren Trosse ins Wasser klatschten und sich das Schiff langsam in Bewegung setzte, hatte ich das Gefühl, als müsste etwas in mir zerspringen vor Freude. Vielleicht lag es an der Erhabenheit und dieser unbändigen Kraft, die ich unter mir spürte, dass ich für einen Moment lang meinte, an dem Ort angekommen zu sein, an den ich gehörte: ein heimatloses Zuhause, ein Ort der Begegnung und der ständigen Veränderung, ein Ort der Bewegung und doch der Kraft des Unveränderlichen. Ich stellte mir vor, dass so mein Leben aussehen könnte. Immer neu und immer gleich. Hätte das nicht gut zu mir gepasst? Doch es sollte noch über fünfzig Jahre dauern, ehe ich in Fiesole bei den Simonis eine ähnliche Heimat finden würde. Und bis dahin standen mir noch viele Reisen bevor. Doch keine, das muss ich ehrlich sagen, hat mich so beeindruckt wie die Überfahrt nach New York in jenem Winter 1923.
    Victor versuchte zwar, die beiden Kinder zu bändigen, die unnachgiebig an seinen Jackenärmeln zerrten, doch schließlich siegte auch sein Entdeckergeist und wir nutzten den Nachmittag, um das Schiff zu erkunden. Lili nahm sich vor, vom Bug bis zum Heck zu laufen und zu zählen, wie viele Schritte das waren, doch vor lauter Staunen vergaß sie ihr Vorhaben wieder und hatte bald die Lust verloren, immer wieder von vorn zu beginnen. Während wir in Salons und Lounges spähten, referierten Leo und Victor abwechselnd technische Details über Bruttoregistertonnen und Schubkraft und was weiß ich nicht alles, doch ich hörte gar nicht hin.
    Hatte ich gestaunt, als ich nach Bath an den Bahnhof gekommen war? Hatte ich mich über die U-Bahn in London gewundert? Über den Reichtum bei den Browns? Das alles war nichts im Vergleich zu diesem Schiff. Peanuts, wie Victor zu sagen pflegte (wofür Emily ihn unter Hinweis auf seine Ausdrucksweise häufig tadelte).
    Die Eingangshalle der Ersten Klasse war so groß, wie ich mir das Entree des englischen Schlosses Windsor Castle vorstellte. In der Mitte lag ein riesiger Gobelinteppich, über den wir vorsichtig schritten, um in die Lounge zu gelangen. Vor uns öffnete sich wie von Geisterhand eine hohe Flügeltür aus Glas, mit floralen Jugendstilmustern verziert, und wir betraten den Aufenthaltsraum der edlen Herrschaften. Und wie edel es hier zuging.
    Wir waren kaum zwei Stunden auf See, da hatten sich hier schon Herren und Damen zum Bridge zusammengefunden. Die Herren genossen irischen Whiskey, die Damen Champagner, wie sie betonten. Auf niedrigen Sesseln, die mit ihren kurzen, gebogenen Beinen und hohen Lehnen aus Samt jeder für sich aussahen wie ein kleiner Thron, saßen sie und gaben sich mit Freuden der Dekadenz hin.
    Victor beäugte das Geschehen mit einer Mischung aus Belustigung und Neugier.
    Na, ist es nicht eigentlich genau das, was du immer kritisierst?
    Die Kinder

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