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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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war Cathy weg, und ich verstand die Welt nicht mehr.
    Beim Frühstück herrschte eine eisige Atmosphäre. Lili hielt mich fest im Arm, boykottierte ihr Porridge und kniff die kleinen Kinderlippen fest zusammen. Leo fehlte. Emily machte ihr Kopfschmerzgesicht und Victor verschanzte sich hinter der Zeitung.
    »Liebes, iss dein Porridge«, sagte Emily und sah Lili bittend an.
    »Ich bin im Hungerstreik. Ich esse erst wieder etwas, wenn Cathy Gerechtigkeit widerfährt«, antwortete Lili.
    »Schatz, du weißt, dass es nicht anders ging. Sie hätte den Schaden nie bezahlen können. Sie kann froh sein, dass ich sie mit einem guten Zeugnis entlassen habe.«
    Du hast sie entlassen? Warum? Sie ist unschuldig. Ich bin Zeuge!
    »Du weißt genau, dass sie es nicht war«, sagte Lili.
    »Leo hat gesagt, dass sie es war. Und sie hat es zugegeben.«
    »Leo lügt. Außerdem hättest du sie auch entlassen, wenn sie gesagt hätte, dass es Leo war.«
    »Einem Dienstboten steht es nun einmal nicht zu, die Herrschaft zu beschuldigen.«
    »Das ist so ungerecht! Ich will keine Herrschaft mehr sein. Ich will Cathy zurück.«
    »Victor«, Emily sah ihren Mann bittend an.
    Er ließ die Zeitung sinken und warf Emily einen müden Blick zu. Ich bangte. Ich hoffte. Ich betete, dass er die erlösenden Worte sprechen würde.
    Sag, dass Cathy zurückkommt.
    Doch er sagte nur: »Lili. Iss dein Porridge.«
    »Diese dumme Vase. Ich hasse Leo«, schimpfte Lili. Ihre Haare flogen, als sie vom Tisch aufsprang. Sie ließ mich fallen (ich fiel häufiger in jenen Tagen), ihr Stuhl kippte krachend hinter ihr um, doch sie machte sich nicht die Mühe, ihn wieder aufzuheben, sondern rannte aus dem Zimmer.
    Es gelang Victor nicht, zu verbergen, was er über diese Situation dachte. Das konnte selbst ich erkennen. Seine Augen waren traurig, und es war unübersehbar, dass er in diesem Moment lieber ein Familienvater gewesen wäre, der seinen Sohn was hinter die Ohren gegeben und sein Hausmädchen um des lieben Frieden willens getadelt hätte, weil sie eine fremde Schuld auf sich genommen hatte.
    Er wäre so gerne seinen Prinzipien treu geblieben, nach denen alle Menschen gleich waren. Doch er tat es nicht. Er drückte sich und überließ es Emily, den Kampf mit ihrer Tochter auszufechten.
    So also funktionierte Macht. Alle wussten, dass Cathy unschuldig war, und doch wurde sie geopfert. Ich verstand sie nicht, diese von mir so geliebte Familie. Ich war zwar noch jung und mit dem Leben noch ziemlich unerfahren. Aber daran lag es nicht.
    Es macht mich noch heute traurig, wenn ich an diesen Moment denke. Es macht mich traurig, weil ich Cathy liebte. Weil ich Leo liebte. Weil es Emily wichtiger war, ihr Personal korrekt zu behandeln als richtig. Weil Victor zu schwach war, sich tatsächlich über die Unterschiede hinwegzusetzen, die er tagein, tagaus so bitter beklagte.
    »Musstest du so hart sein?«, hörte ich ihn fragen, während ich auf dem Boden liegend seine schwarz glänzenden Schuhe betrachtete und darauf wartete, dass jemand mich aufheben würde.
    »Ich weiß es nicht, Victor«, flüsterte Emily. »Ich weiß es nicht.«
    Sie ließen mich liegen.
    Ein neues Dienstmädchen kam. Doch ich kann mich nicht mal mehr an ihren Namen erinnern, so egal war sie mir. Auch Lili und Leo machten keine Anstalten, sich mit ihr anzufreunden. Sie war einfach nur da und verrichtete ihre Arbeit.
    In der Küche herrschte nach dem Vasenfall wochenlang Trauerstimmung. Mary Jane war das Singen vergangen.
    Lilis Hungerstreik dauerte vier Tage.
    »Andere haben damit auch Erfolg«, sagte sie auf Victors verzweifeltes Flehen. Sie zog sich Sandalen und einen weißen Umhang an, bastelte sich aus Draht eine runde Brille und verweigerte das Essen – bis Mary Jane ihren eisernen Willen schließlich mit Pfannkuchen brach.
    Der Zorn in Leos Augen wich nicht. Obwohl er sich, wie ich glaube, seiner Schuld bewusst war, beharrte er auf seiner Version der Dinge. Dieser Vorfall veränderte den Jungen für immer, er pflanzte die Wut in sein Herz.
    Es dauerte eine Weile, dass wieder Normalität einkehren konnte. Irgendwann saßen wieder alle am Frühstückstisch. Irgendwann sagte Lili nicht mehr »Lügner« vor jedem Satz, den sie an Leo richtete. Irgendwann hielt sich Leo nicht mehr die Ohren zu, wenn Cathys Name fiel. Irgendwann lachten sie wieder gemeinsam über Lord Malcolm Forsythe. Irgendwann waren Emilys Kopfschmerzen vergangen. Irgendwann war scheinbar alles wieder gut. Nur war es eben nicht mehr

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