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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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allem beschützen, ich muss meine eigenen Erfahrungen machen.«
    Und Hélène antwortete: »Ich weiß, mein Schatz, aber wenn du auf die Herdplatte fasst, brennt es in meinem Herzen.«
    Ich konnte sie beide so gut verstehen. Die eine wie die andere. Und besser, als Hélène es damals formulierte, kann ich auch heute nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn in Tagen des Krieges ein kleiner Junge nachts aus dem Haus schleicht, weil er seine Heimat nicht verlassen will, während über ihm die deutsche Gewitterwolke hängt und kurz vor dem Bersten steht.
    Ich hoffte so sehr, dass er ein verräterisches Geräusch machen würde, dass er mich fallen ließ (ja, so selbstlos war ich), dass die Dielen knackten oder dass ein Fliegeralarm ihn aufhalten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Vorsichtig drehte er den Schlüssel in der Wohnungstür und zog sie auf. Und ich atmete zum letzten Mal den vertrauten Geruch dieser Wohnung. Hörte ein letztes Mal das Schnarchen von Nicolas.
    Draußen war es noch dämmrig, und auch in dieser Nacht waren die Straßenlaternen wegen der allgemeinen Verdunklung ausgeschaltet. Es gab überhaupt kein Licht, außer dem des bleichen Mondes. Über Nacht hatte es abgekühlt. Ich spürte Roberts Gänsehaut, während er durch die dunklen Straßen ging. Kein Mensch war unterwegs, und doch fühlte es sich so an, als herrsche hinter den geschlossenen Fensterläden der Häuser rege Aktivität. Nicolas hatte gehört, dass zahlreiche andere ebenfalls entschlossen waren, Paris doch noch zu verlassen. Sicher wurde überall geräumt, gepackt, geweint, ebenso wie bei uns. Es war gespenstisch, und ich bin sicher, dass Robert es ebenso empfand. Doch er war nicht aufzuhalten. In seinem Kopf hatte sich eine Idee festgesetzt, die er mit allem ihm zur Verfügung stehenden Starrsinn verfolgen würde. Wie es schien, setzte diese Zielstrebigkeit zeitweise sogar seine Angst außer Gefecht.
    Er wusste genau, wohin er wollte, und ich dachte erst, ich wüsste es auch. Aber er schlug nicht den Weg zu Madame Denis’ Gartenlaube ein, sondern ging geradewegs die Rue Bobillot hinunter zur Place d’Italie. Die Häuser und Geschäfte dort waren verrammelt. Nicolas war einer der Letzten gewesen, die das metallene Rollgitter auf unbestimmte Zeit heruntergelassen hatten. Seine Kollegen und Freunde, seine Konkurrenten und Geschäftspartner hatten bereits unmittelbar nach dem Angriff auf die Autofabrik das Weite gesucht, denn den meisten war ihr Leben lieber als ihr Geschäft.
    Wo willst du hin, Robert? Wir müssen nach Hause!
    Robert trat an die Mauer, die den Hinterhof des Ladens von der Straße trennte. Er warf erst den Ranzen, dann mich hinüber, und während ich noch versuchte, mich von dem unerwarteten Flug zu erholen, kam er schon hinterhergeklettert.
    Wollte er in den Laden? Nicolas hatte doch am Vorabend alles zugesperrt, das hatte er selbst gesagt! Aber der kleine Robert, Träumer und heimlicher Mädchenspion, hatte an alles gedacht. Er schlich an den Mülltonnen vorbei zur Treppe, die in den Vorratskeller führte, und rüttelte versuchsweise an der Tür. Sie war natürlich abgeschlossen.
    Siehst du? Es hat gar keinen Zweck. Können wir jetzt bitte nach Hause gehen?
    Er schien jedoch nicht sonderlich überrascht zu sein und ging zu dem kleinen Fensterchen, das in die Waschküche führte.
    Ich hätte es wissen müssen.
    Mehr als einmal waren wir durch dieses Fenster in die Waschküche geklettert und von dort aus durch den Vorratskeller in den Laden gelangt.
    Ich hatte zwar keine Ahnung, wie die Deutschen aussahen, aber wenn sie solche Ungeheuer waren, wie alle sagten, dann würden sie ganz sicher nie durch dieses Fenster passen, beruhigte ich mich. Selbst Robert bereitete es seit einigen Monaten Schwierigkeiten, sich durchzuquetschen, er war zwar immer noch schmächtig, doch er war gewachsen, und seine Schultern würden auch bald zu breit für diese Öffnung sein. Er streckte die Hand durch den Lüftungsspalt, schob mühelos von innen den Riegel zur Seite und drückte das Fenster auf. Es war eine Sache von wenigen Sekunden, und schon waren wir drin. Ausnahmsweise ging er vor und holte mich und den Ranzen nach. Eine weitere Wurfreise blieb mir so wenigstens erspart.
    Der Vorratsraum war leer, und es roch modrig. Robert tastete sich durch das ihm wohlbekannte Halbdunkel. Der Boden war von alten Kohlkopfblättern übersät, ein paar einzelne Kartoffeln waren liegen geblieben und trieben bereits aus. Tausendmal hatten wir

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