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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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hatte enorme Reißzähne, das hatte Robert mir in seinem Buch über die wilden Tiere gezeigt).
    Ich stellte mir vor, wie die Monster Nadine und Nicolas gefangen nahmen, die hilflos als Einzige im ganzen Viertel geblieben waren, weil Robert und ich nicht auffindbar gewesen waren. Sie verschlangen die beiden mit einem einzigen Bissen und stampften dann weiter, direkt auf den Laden zu, den Vorratskeller …
    Es war schrecklich. Ich weiß nicht, wie lange ich mich diesen Schreckensphantasien hingab. War es immer noch Nacht? Waren Jean-Louis und Marie bereits ohne uns abgefahren? Robert wachte auf.
    Na endlich! Gehen wir jetzt nach Hause?
    Verschlafen rieb er sich die Augen, setzte mich neben sich (auf den kalten schmutzigen Boden) und zog den Indianer aus der Hosentasche. Er machte keine Anstalten aufzubrechen.
    Robert, es reicht jetzt. Du hast lange genug protestiert. Wir müssen nach Hause.
    Doch Robert rührte sich nicht vom Fleck.
    Plötzlich hörten wir ein Geräusch. Gleichzeitig schreckten wir hoch, hielten die Luft an, um besser hören zu können. Was war das? Erst dachte ich, die Ratte wäre zurück, doch es waren Geräusche von oben, von draußen. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Robert drückte mich und den Indianer fest an sich. Wir hörten noch einmal ein Scharren, dann war es wieder still.
    Die Deutschen. Jetzt gab es kein Entkommen.
    Eine Weile blieb es ruhig, dann flog plötzlich mit einem Krachen die Tür zum Vorratsraum auf, in der Sekunde darauf ging das Licht an. Robert fuhr vor Schreck zusammen, er hielt sich die Arme vor die Augen, so blendete ihn das grelle Licht der Lampe nach den langen Stunden im Dunkeln.
    Als er an der Hand hochgerissen wurde, ließ er mich fallen. Ich landete auf dem Rücken und sah, wie sein kleines Gesicht fast völlig von der Hand verdeckt wurde, die ihm jetzt eine schallende Ohrfeige versetzte.
    »Robert, was fällt dir eigentlich ein?«, schrie Nadine. Ihre Stimme überschlug sich. Sie hatte Robert noch nie geschlagen. Nie. Ich war wie gelähmt. Doch sie brüllte weiter, hysterisch, panisch, die nackte Angst in der Stimme.
    »Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Wir haben dich überall gesucht! Hast du noch immer nicht begriffen, dass das hier keine deiner Geschichten ist? Komm jetzt, komm endlich!«
    Sie riss an seinem Arm. Unwillkürlich kam mir die Erinnerung an das Gefühl, als Lili und Leo so an mir gerissen hatten, an diesem Weihnachtsabend vor so vielen Jahren. Damals, in einem anderen Leben. Armer, kleiner Robert. Er fing an zu weinen.
    »Los jetzt. Jean-Louis ist unsere letzte Hoffnung. Verstehst du denn gar nichts? Wir werden alle sterben, wenn du jetzt nicht kommst!«
    Von oben war Nicolas’ Stimme zu hören.
    »Nadine? Nadine?«
    »Ich habe ihn!«, rief sie ihrem Mann zu.
    »Beeilt euch!«, kam es von oben zurück. »Die Straßen sind schon dicht. Wir müssen los!«
    »Maman«, weinte Robert. »Maman, ich will hierbleiben. Ich will nicht sterben. Ich habe Angst.«
    Nadine reagierte nicht mehr auf das Weinen ihres Sohnes. Schwer wie ein nasser Sack hing er an ihrer Hand, sie zerrte ihn durch den Dreck hinter sich her, und das Letzte, was ich von den Bouviers sah, waren Roberts dürre Knie, die über den Boden schlitterten und rutschten, ich sah sie neben mir, sah die Haut reißen, dann verschwanden sie durch die Tür.
    Von draußen, durch das Fenster der Waschküche hörte ich Roberts Heulen: »Maman, ich habe Doudou vergessen! Maman! Doudou!«
    Es war nicht zu überhören, dass er versuchte, sich loszumachen. Füße traten wild um sich.
    »Dafür ist jetzt keine Zeit!«, hörte ich Nicolas’ Stimme, die den Geräuschen ein jähes Ende machte. Und dann dehnte sich das Weinen zu einem lang gezogenen Heulen aus.
    »Doudou!«, hörte ich noch ein letztes Mal.
    Und dann wusste ich, dass sie mich zurückgelassen hatten.

4
    J etzt ist es sicher schon eine halbe Stunde her, dass der Mann vom Grenzschutz hier war, und nichts ist passiert. Ich warte.
    Ich war nicht oft im Theater in meinem Leben, denn Teddys haben im Theater nicht viel verloren (dazu ist es zu ernst), daher beschränkt sich meine Schauspielkenntnis auf drei Stücke: »Die Wildente«, »Hurvineks Schneemann« und »Warten auf Godot«. Ich hoffe inständig, dass ich hier auch auf jemanden wie diesen Godot warte. Jemanden, der nie kommt.
    Das Licht im Raum hat sich verändert. Draußen vor dem Fenster scheint sich etwas zusammenzubrauen. Es ist dunkler geworden. Vielleicht gibt es ja

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