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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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gut«, antwortete Nadine. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
    Marie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, Jean-Louis sah verzweifelt vom einen zum anderen.
    »Also dann, morgen Früh halb sieben. Wir kommen Sie abholen.«
    Der Laut der zuschlagenden Tür war das einzige Geräusch, das das schwere Schweigen durchbrach.
    Ich erschrak, als Robert plötzlich mitten in der Nacht aus dem Bett stieg.
    Ist es schon so weit? Fahren wir?
    Er zog sich leise an: die kurze Hose, sein blaues Hemd, das er am liebsten trug, die alten Socken vom Vortag, obwohl sein linker großer Zeh inzwischen bestens frische Luft bekam.
    War es schon halb sieben? Ich hatte nichts gehört, keine Geräusche des Aufbruchs, nicht, dass Nadine Kaffee kochte. Außerdem drang Nicolas’ Schnarchen noch durch die dünnen Wände.
    Dass Nadine bei diesem Krach schlafen kann, dachte ich kurz und musste lächeln. Doch jede Nacht lag sie zufrieden mit dem Kopf in Nicolas’ Arm, während seine Brust sich geräuschvoll hob und senkte. Vor ein oder zwei Jahren noch waren Robert und ich gerne nachts in ihr Bett gekrochen. Dann hatten wir uns zwischen Armen und Beinen einen Platz gesucht und es uns gemütlich gemacht. Nicolas’ Schnarchen mag laut gewesen sein, aber für uns war es das sichere Signal, dass alles seine Ordnung hatte. Auch jetzt ließ sein Atem die Wände beben, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass keineswegs alles in Ordnung war.
    Mein Gefühl trog mich nicht.
    Auf Zehenspitzen schlich Robert durch sein Zimmer zum Regal. Eine Weile blieb er unschlüssig davor stehen. Zögernd wanderte seine Hand über die unterschiedlichen Spielzeuge, eines nach dem anderen nahm er in die Hand. Den Kreisel mit der Peitsche, das bunte Glasstück, das wir in Madame Denis’ Garten gefunden hatten, den kleinen roten Ball, das Feuerwehrauto, das Maurice ihm zur Kommunion geschenkt hatte, das alte Pferd, dem der Schweif abgegangen war. Schließlich suchte er den Holzindianer heraus und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden.
    Plötzlich ging er vor dem Bett auf die Knie und holte seinen Tornister darunter hervor. Ich konnte erkennen, dass darin weder seine Tafel noch seine Bücher waren, sondern eine Flasche Limonade und ein Halstuch. Jetzt stopfte er das Buch über die wilden Tiere dazu, nahm die Steinschleuder vom Nachttisch, wo sie immer bereitlag, dann verschloss er seinen Ranzen sorgfältig. Ohne Zweifel bereitete er die Abreise vor. Aber wieso tat er das mitten in der Nacht?
    »Komm, Doudou«, flüsterte er.
    Wohin denn?
    »Wir bleiben in Paris. In unserem Versteck wird uns niemand finden.«
    Nein! Ich will nicht in Paris bleiben! Denk doch daran, was du deiner Mutter versprochen hast. Du wolltest nie wieder fortlaufen. Wir können jetzt nicht weg! Morgen fahren wir doch alle zusammen auf Drachenjagd ins Burgund.
    Er hörte nicht auf mich. Mit einem leisen Quietschen glitt die Tür auf, er schlich aus dem Zimmer, wie ein Indianer auf Spähpfad.
    Ich sage bewusst, »er« schlich hinaus. Denn in diesem Fall möchte ich mich deutlich von seinem Handeln distanzieren. Meistens war es, als wären Robert und ich ein Herz und ein Seele, als wären wir eine Person. Was er tat, tat auch ich. Hatte er Kummer, war auch ich unglücklich. Wir waren ein unverbrüchliches Team. Doch in diesem Fall verstand ich meinen besten Freund nicht mehr. Ich war nicht damit einverstanden, dass er sich bei Nacht und Nebel davonmachte und damit womöglich seine ganze Familie ins Unglück stürzte. Sie würden niemals ohne ihn fahren. Sie würden ihn suchen, verzweifelt und vergeblich, und sie würden es nicht schaffen, die Stadt zu verlassen, bevor die Deutschen – ja, was würden sie tun? Diese Frage beschäftigte nicht nur mich in diesen Tagen.
    Doch Robert hatte sich entschieden. Ich weiß nicht, was in diesem kleinen Kopf vor sich ging. Ich weiß nicht, welche Hoffnung, welche Ängste und welche irrsinnigen Pläne darin waren. Aber ich war sicher, dass er auf bestem Wege war, eine fürchterliche Dummheit zu begehen. Und ich hatte keine Mittel, ihn aufzuhalten.
    Das sind die schwersten Momente in einem Bärenleben: den Menschen, den man liebt, frei in sein Unglück laufen zu lassen, sehenden Auges und unfähig einzugreifen. Das lernt man nie, und wenn man es noch so häufig tun muss.
    Viele Jahre später, als ich mit Isabelle nach Florenz aufbrach, um Dummheiten zu machen, wie ihre Mutter Hélène lautstark befürchtete, sagte sie: »Maman, du kannst mich nicht immer vor

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