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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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uns hier vor den Rächern Samir-Unkas versteckt. Tausendmal hatten sie uns nicht gefunden. Ich begriff, warum wir hier waren, dies war der Ort, an dem Robert sich am sichersten fühlte. Sicherer als irgendwo sonst.
    Ich hörte ein Rascheln in einer der hinteren Ecken, wo immer die Äpfel gelagert wurden, als es noch welche gab. Erschreckt hielt Robert inne.
    »Es ist nur die Maus, Doudou, habe ich recht?«, flüsterte er. Und das verräterische Piepsen, das bald darauf folgte, schien seine Vermutung zu bestätigen.
    Robert suchte kurz nach einer geeigneten Ecke, um sich niederzulassen, dann holte er etwas aus seinem Tornister und setzte sich.
    Du willst doch nicht hier in diesem dunklen Keller bleiben?
    Ich war entsetzt, doch die zahlreichen Fliegeralarm-Nächte hatten Robert scheinbar auch die letzten Vorurteile bezüglich dunkler Kellerräume genommen.
    »Hier werden uns die Deutschen nicht finden. Ich will nicht fort aus Paris«, sagte er in die Dunkelheit. »Niemals.«
    Er nahm mich fest in den Arm, hielt mich vor der Brust an sich gedrückt und versenkte seine Nase in meinem Nackenfell. Ich spürte seinen Atem, der immer gleichmäßiger wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wäre er eingeschlafen. Ich kannte die Geräusche, die er machte, wenn der erste Traum in sein Unterbewusstsein schlich. Ich kannte dieses leise Schmatzen und dieses friedliche nasale Atmen. Manchmal fiel es mir schwer, zwischen ihm und mir zu unterscheiden, so verbunden war ich mit diesem Jungen, so nah war er mir.
    Er schlief schnell ein, müde von den nächtlichen Anstrengungen, doch scheinbar ohne schlechtes Gewissen, und ich blieb mit meinen Gedanken allein.
    Ich war hin und her gerissen. Einerseits bewunderte ich Roberts Mut und seine Entschlossenheit, andererseits hätte ich ihm am liebsten ellenlange Strafpredigten gehalten. Ob Nadine und Nicolas schon wach waren? Ob sie schon bemerkt hatten, dass wir nicht mehr da waren? Was sollte jetzt werden? Wie hatte dieser kleine Dummkopf sich das vorgestellt? Wie lange sollten wir denn hier unten bleiben?
    Es war keine Maus, sondern, schlimmer noch, eine Ratte, die an Roberts Bein hochlief, sie schnupperte an meinem Fuß. Ich fühlte ihre spitze Nase, die langen Barthaare, den schnellen Atem und die kleinen Krallen.
    Geh weg. Lass uns in Ruhe. Wir wollen schlafen.
    Sie stellte sich auf die Hinterbeine, schnüffelte an meinem linken Arm, dann fühlte ich ihre Nase plötzlich an meinem Fuß.
    Wenn du nicht gehst, freunde ich mich mit der nächstbesten Katze an.
    Die Quittung für diese Drohung kam postwendend. Ich schrie innerlich auf, als ein scharfer Rattenzahn durch mein Fell drang.
    Vielleicht hat Robert es ja gespürt, dass ich in akuter Lebensgefahr schwebte, denn plötzlich wurde er unruhig und bewegte sich im Schlaf, und die Ratte verschwand.
    Für einen kurzen Moment war ich vollkommen mit dem Angriff auf meine Person beschäftigt. Um ein Haar wäre ich das Opfer von Rattenzähnen geworden. Winzige, kleine Zähne eines Tierchens, das nur den Trieb kennt, sich zu ernähren und zu vermehren. Es hätte mein Ende sein können. Wie grotesk war diese Welt, dass man sterben konnte, während man versuchte, um jeden Preis sein Überleben zu sichern? Machte es einen Unterschied, ob man durch eine Ratte oder ein deutsches Monster zu Tode kam? Ich wusste es nicht.
    Immer wieder fragte ich mich, wer diese »Deutschen« eigentlich waren. Sie mussten schlimm und grausam sein, das hatten die Menschen in Paris immer wieder gesagt. Der Feind, der uns nach dem Leben trachtete. Riesige Armeen unter Leitung eines Mannes, den sie den Führer nannten. Maurice hatte sich manchmal über diesen Führer lustig gemacht, hatte seine schnarrende Art zu sprechen so perfekt nachgeahmt, bis Nadine und Nicolas vor Lachen Tränen in den Augen hatten. Dennoch war er vor ihm geflohen. Und nicht nur er.
    Bilder entstanden in meinem Kopf, die ich nach so vielen Jahren nur noch schwer beschreiben kann. Es waren Bilder der Angst, sie wuchsen in der Dunkelheit des Vorratskellers, bliesen sich auf zu riesenhaften bedrohlichen Schreckgespenstern: Ich sah vor mir, wie sich eine Welle aus großen, grauen Gestalten die Rue de Butte aux Cailles entlangschob. Sie schlugen Fensterscheiben ein, rissen das Schild von Maurices Laden herunter und spuckten Feuer. Sie hatten langes zotteliges Fell, gigantische Köpfe, aus denen glühende Augen starrten. Sie hatten Reißzähne, die schlimmer waren als die des Königstigers (und der

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