Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
ausräumte, die wichtigsten Dinge in eine Kiste packte und den Rest zu Schleuderpreisen verkaufte. Er wollte lieber Verluste machen, als den Deutschen auch nur eine Gurke zu überlassen.
Jean-Louis, der Schalterbeamte der Bank, der bisher jeden Morgen bei uns vorbeikam, um sich Obst für die Mittagspause zu kaufen, hatte sich bereit erklärt, uns aus Paris mitzunehmen. Er hatte ebenfalls Verwandtschaft im Burgund.
»Aber wir müssen bald los«, hatte Jean-Louis dem Gemüsehändler eingeschärft, »sonst wird die Reise für Marie zu schwer. Mein Kind soll in Frieden geboren werden, nicht in einem Fluchtauto.«
Nicolas hatte matt genickt und sich darangemacht, die letzten Kohlköpfe zu verkaufen.
Wir würden nur wenig mitnehmen können. Jean-Louis’ Wagen, mit dem wir Paris verlassen wollten, war mit fünf Leuten schon so voll besetzt, dass für Gepäck kaum noch Platz sein würde. Ich dachte an Monsieur Brendacier, der sogar versuchte, seine Matratze zu retten. Das würde uns nicht gelingen, bei uns ging es wohl hauptsächlich um unser Leben.
Die Anspannung stieg. Ich mag nicht behaupten, ich hätte ein ähnliches Reisefieber verspürt wie damals, als wir nach Amerika aufbrachen. Aber ich sehnte die Abreise herbei. Sicher würden wir es auf dem Land besser haben. Tante Margot freute sich auf unser Kommen. Eigentlich lief alles bestens.
Nur Robert machte Schwierigkeiten.
Es war am 3. Juni, gegen Mittag, als er sich das erste Mal richtig mit Nadine stritt.
»Aber ich will nicht aus Paris fort«, sagte er aufmüpfig, als Nadine sorgsam seine Kleider faltete und in den Koffer legte.
»Von Wollen kann auch keine Rede sein, mein Schatz, aber wir haben keine andere Wahl.«
»Doch. Wir können hierbleiben.«
»Nein, das können wir nicht, und das werden wir auch nicht tun.«
Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten. Sie sollten nicht streiten. Dieser schreckliche Krieg säte selbst in den besten Familien Zwistigkeiten. Es war furchtbar.
»Aber was soll denn aus Prinzessin Zazie werden?«, beharrte Robert.
»Ich bin sicher, Prinzessin Zazie findet einen Weg nach Burgund.«
»Das glaube ich nicht.«
»Darüber diskutiere ich jetzt ganz sicher nicht mit dir. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal, Robert. Sei jetzt lieb und hilf mir.« Sie sah ihn streng an. »Bitte«, setzte sie scharf hinzu.
Sie verlor die Nerven.
»Du bist eine alte Hexe«, rief der Junge verzweifelt. »Eine schreckliche alte Hexe!« Dann schnappte er mich vom Regal und stürmte aus dem Zimmer.
»Robert, wo willst du hin? Du kommst zurück! Sofort!«, rief Nadine hinter uns her.
Robert, ich finde, wir sollten ausnahmsweise bei der Hexe bleiben …
Doch Robert antwortete ihr ebenso wenig, wie er auf mich hörte.
Alles in mir sträubte sich. Ich hatte die Angst in Nadines Augen gesehen, ich spürte seit Tagen die unterschwellige Panik, die in allem lag, was sie tat.
Niemand wusste, was auf uns zukam. Niemand wusste, ob oder wann wir nach Paris zurückkehren und was wir dann dort vorfinden würden.
Sie waren dabei, ihr Leben in einen Koffer zu packen und irgendwo ganz von vorn zu beginnen. (Ich kenne dieses Gefühl, nur, dass ich vor einem Neuanfang selten meinen Koffer packe.) War es ihr da zu verdenken, dass sie ihrem Sohn gegenüber die Geduld verlor?
Robert und ich liefen ziellos durch die Straßen. Überall waren Menschen im Aufbruch. Überladene Autos, die bis unters Dach mit Koffern, Kisten, Omas und Kanarienvögeln bepackt waren, schoben sich durch die Straßen. Es war viel Verkehr. Mehr als sonst.
Als die Sirene ertönte, die feindliche Flieger meldete, waren wir weit von zu Hause entfernt.
Ich mag mir nicht ausmalen, welche Sorgen Nadine in dem Augenblick ausgestanden hat, als der Alarm ertönte. Ich möchte auch gar nicht versuchen, mir vorzustellen, wie sie die zwei Stunden verbracht hat, die vergingen, bis es Entwarnung gab und die donnernden deutschen Jagdbomber ihr Werk vollendet hatten. Sie muss schreckliche Angst gehabt haben. Vielleicht ist sie auf die Straße gelaufen und hat uns gesucht? Vielleicht ist sie rufend und weinend zur Place d’Italie gerannt, in der Hoffnung, uns dort zu finden? Ich werde es nie erfahren.
Robert und ich waren wie immer in brenzligen Momenten in Madame Denis’ Garten. Dort hockte er in der Laube, aus den in Furcht weit aufgerissenen Augen rollten ihm die Tränen über die Wangen. Wie ein Gebet wiederholte er unablässig dieses eine Wort: »Maman, Maman, Maman.«
Ich lag auf dem
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