Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
ein Gewitter. Es wäre passend.
In der vergangenen halben Stunde habe ich immer wieder Revue passieren lassen, was der Uniformierte am Telefon gesagt hat. Es scheint mir fast so, als fände er es ebenso überflüssig wie ich, dass ich hier eingesperrt bin. Ich habe den Eindruck, dass er zunächst dachte, jemand hätte sich einen Spaß mit ihm erlaubt. Er scheint nicht davon überzeugt zu sein, dass ich wirklich gefährlich bin.
Einen kleinen Augenblick war da am Telefon der Mensch zum Vorschein gekommen – mit Fragen und Gefühlen, und ich hatte schon Hoffnung. Doch dann hat er sich erinnert, dass er Uniform trägt. Soldat Haubenwaller. Und für Soldaten ist Befehl Befehl.
Wer gut oder böse, Freund oder Feind ist, das entscheiden andere. So viel habe ich begriffen.
Obwohl mir diese abstrakte Einteilung in Freund und Feind wahrlich Probleme bereitet, denn sie befiehlt dem Verstand oft etwas anderes, als das Herz verlangt.
Bei mir ist der Fall ganz einfach gelagert: Das Herz entscheidet, wer mein Freund ist, Landes- und Standesgrenzen sowie Kriegsschauplätze spielen dabei keine Rolle.
Wahrscheinlich bin ich genau deshalb in Kriegstagen von einer Verwirrung in die nächste gestürzt.
ZWISCHEN DEN FRONTEN
B allhaus, Meier, Hänsgen, Sie gehen in den Keller. Sehen Sie nach, ob Sie etwas finden«, befahl eine Stimme laut und keinen Widerspruch duldend.
»Jawohl, Herr Oberleutnant!«, riefen drei andere Stimmen im Chor.
Und es kamen Schritte.
Als ich das vertraute Geräusch des Rollgitters gehört hatte, war in mir für einen Moment die Hoffnung aufgekeimt, dass Nadine, Nicolas und Robert zurück waren. Dass der Krieg vorüber war. Dass die Deutschen zurück in ihre Monsterheimat gegangen waren. Dass alles wieder so würde wie früher. Doch natürlich wusste ich es besser. Es war in meinem ganzen Leben noch niemals etwas wieder so wie früher geworden. Die Zeit lässt sich nur in Kinderspielen zurückdrehen. Doch wenn man zehn Tage in Dunkelheit auf dem kalten Boden eines Vorratskellers gesessen hat, erlaubt man sich schon mal eine kleine Illusion.
Aber schon die Art, wie das Gitter aufging, war falsch. Niemals hätte Nicolas es mit solcher Wucht nach oben rattern lassen. Er war immer vorsichtig gewesen, denn er wusste, dass ein neuer Rollladen ihn einen Wochenlohn kostete.
Dann die Schritte – fremd und laut. Nie im Leben waren das die Bouviers. Und als die Stimmen erklangen, war jede Hoffnung dahin. Sie sprachen anders als wir, eine Sprache, die ich noch nie gehört hatte.
Die Deutschen. Jetzt waren sie wirklich da. Und ich war allein.
Schwer donnerten Stiefel die wenigen Stufen zum Keller hinunter. Die Tür stand nach Nadines überhastetem Abgang noch offen, das Licht war allerdings bei einem Fliegerangriff letzte Woche ausgegangen. Seither saß ich im Dunklen. Wie gebannt starrte ich auf das helle Rechteck, das der Türrahmen bildete. Wie soll ich beschreiben, wie ich mich fühlte? Ich glaube, sogar meine Gedanken waren gelähmt.
Der Lichtschein einer Taschenlampe flackerte durch den Gang. Dann wieder eine Stimme:
»Siehst du hier nach, Fritz? Wir gehen noch weiter nach hinten.«
Fritz oder Boche, so hatte Nicolas die Deutschen immer genannt. Dies war offenkundig ein Fritz, auch der letzte Hoffnungsschimmer war dahin.
Ich wusste nicht, was ich noch denken sollte. Es hatte ohnehin keinen Zweck, sich irgendetwas zu überlegen, denn ich war wie immer zu Tatenlosigkeit verdammt. Dieser Fritz würde über mein Schicksal entscheiden. Bestenfalls würde er mich einfach übersehen. Aber konnte man in einem fast leeren Keller einen Teddy übersehen, der in der Mitte auf dem Boden lag?
Der Lichtkegel einer Stablampe zuckte über die Wände. Im Gegenlicht hoben sich die Umrisse einer Gestalt ab.
Die Lampe leuchtete ein Wandregal nach dem anderen ab. Das Licht fiel auf Roberts Steinschleuder und den Tornister. Armer Robert. Er hatte die Steinschleuder liegen lassen. Womit würde er sich jetzt verteidigen?
Ich hörte das Monster enttäuscht seufzen. Es klang wie das Seufzen eines Mannes. Es war ein Mann.
So. Hier ist nichts, das siehst du doch. Du kannst dich verziehen.
Er wandte sich zum Gehen und schaltete die Taschenlampe aus.
Gut. Au revoir. Oder besser: Auf Nimmerwiedersehen.
Ich atmete auf.
Er war schon so gut wie weg, da trat er plötzlich auf meinen Fuß. Ein schwerer Soldatenstiefel drückte mich zusammen. Schwerer als dieser Fuß wog nie wieder etwas auf mir. Unter dieser Last verlor ich
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