Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
und zeigte bereitwillig die aufgescheuerten, rotfleckigen Finger. Sehen Sie das nicht? Da sind noch Flecken von der Gehirnmasse, es gelingt mir nicht, sie wegzuwaschen. Sie haben sich eingeätzt. Verstehen Sie? Es war in Wirklichkeit mein Vater, der auf mich schoss. Des Nachts schlief ich nicht. Vaters Schnürsenkel hatte sich um meinen Hals gelegt, der Galgen der Väter. So leicht ist es zu lügen. Um die Wahrheit ist es schlechter gestellt, was meiner Meinung nach eine gute Lösung ist. Ich wurde vom normalen Dienst befreit, konnte meinem Vaterland jedoch auf andere Art und Weise dienen. Ich wurde nämlich den nichtkämpfenden Truppen zugeteilt und konnte den Sanitätern helfen, wenn es nötig war, etwas, das die Offiziere und die anderen gewöhnlichen Idioten als unmöglich ansahen, ein Traum, während sie doch gerade einen Weltkrieg hinter sich hatten. Wie dem auch sei, dem Militär waren meine ungewöhnlichen Fähigkeiten nicht entgangen, schließlich war ich ja der Beste in allen Fächern in der Kathedralschule gewesen, was sie heroisch fanden, und dazu noch meine tragische Vergangenheit, und als sich dazu herausstellte, dass ich Medizin studieren wollte, vielleicht hatte ich das in einem dieser Gespräche erwähnt, dass ich meinen Vater dadurch ehren wollte, indem ich andere rettete, da erschien diese Lösung naheliegend. Bernhard Hval im Sanitätsdienst! Damit konnte ich leben. Alle zufrieden! Europa war gerettet. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Ich wurde also im Herbst 1919 an der königlichen Frederiks Universität immatrikuliert, in einem ungewöhnlich schönen Herbst für diese Zeit. Heute ist der Herbst nur eine Plage, grau, verrußt, wie eine Ansichtskarte aus Osteuropa, aber das ist wohl in erster Linie meine Schuld. Es ist der Frühling, in dem sich die Leute umbringen. Da ich kein Latinum hatte, musste ich zunächst Eingangsprüfungen in Latein absolvieren, sie bestanden in einem Kursus von zwei Semestern, bevor ich mit meinen medizinischen Studien beginnen konnte. Meine Mutter und ich aßen Sahnetorte in Halvorsens Konditorei und tranken Portwein zur Feier des Tages. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen sie überhaupt das Haus verließ. Sie redete nicht viel, aber es war offensichtlich, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, etwas Wichtiges. Wenn ich jetzt daran denke, an die Sahneschnittchen, den Portwein in den kleinen Gläsern, die Ruhe und den Herbst auf Wessels plass vor der Konditorei, dann fällt mir ein, dass sie nicht älter als 39 Jahre gewesen sein kann und trotzdem einem Menschen ähnelte, der das Leben hinter sich hatte. Als wir in den Skovveien kamen, stand jedoch ein Koffer im Flur bereit, und mir war klar, dass etwas geschehen sollte, etwas, was ich schon früher hätte bemerken müssen und dem ich am besten hätte zuvorkommen sollen.
»Du musst wissen, dass ich stolz auf dich bin, Bernhard«, sagte sie.
Ein derartiger Einstieg in ein Gespräch verspricht nie etwas Gutes. Als Arzt weiß ich, dass es etwas Unheilbares bedeutet, eine Diagnose jenseits aller Wissenschaft. Das wusste ich damals natürlich noch nicht, ich verstand es nur auf eine andere Art und Weise, die letztendlich auf das Gleiche hinauslief.
Deshalb schwieg ich und ließ sie fortfahren, und wie durch ein Wunder gelang es mir, mich im Zaume zu halten, nicht ein Schnauben, nicht ein Schlucken, nicht ein einziges Trampeln mit dem Fuß oder ein Arm in der Höhe, nein, es schien eher, als wäre ich aus Ruhe und Besonnenheit gegossen.
Dann kam sie zur Sache.
»Du bist jetzt ein erwachsener Mann und kommst deshalb allein zurecht.«
»Danke.«
Mutter zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach.
»Signe und ich, wir fahren nach Neuseeland. An einen kleinen Ort, der Christchurch heißt. Sie hat Verwandte dort. Das Konto und die Wohnung sind auf dich übertragen, ebenso der Wagen und Alfred. Ich schicke dir die Adresse, sobald wir angekommen sind. Verstehst du, Bernhard?«
Das klang komisch: Alfred war auf mich übertragen worden.
»Danke«, wiederholte ich.
»Danke? Ist das alles, was du zu sagen hast?«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen? Sag, was ich sagen soll, dann kann ich es sagen.«
»Hasst du mich so sehr?«, fragte Mutter.
Ich hätte Mutter sagen können, dass ich ihr Gefängnis war, neunzehn Jahre hatte sie bei mir verbüßt, und jetzt war sie frei. Ich hätte außerdem sagen können, dass sie es war, die mich freiließ. Ich hätte sagen können, fick doch, wen du
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