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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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willst.
    »Ich hoffe nur, dass du wieder schön wirst«, sagte ich.
    Mutter hob den Koffer und stellte ihn wieder hin. Draußen hörte ich den Roadster.
    »Das spielt keine Rolle mehr, aber das war schön von dir gesagt.«
    Sie trat einen Schritt näher und griff nach mir.
    »Ich will mir nur erst die Hände waschen«, sagte ich.
    Ich drehte ihr den Rücken zu und ging stattdessen ins Wohnzimmer, blieb dort am Fenster stehen. Ich sah, wie Alfred den Koffer in den Kofferraum legte, mir einen kurzen Blick zuwarf, bevor Mutter sich auf die Rückbank setzte. Dann fuhren sie hinunter zum Hafen bei Akershus, wo Signe wartete. Sie nahmen die Queen Elizabeth bis London, und von dort fuhren sie weiter nach Neuseeland, Christchurch. Weiter weg konnte Mutter nicht kommen. Das war Mutters letzter Kurort, dort, wo es Dienstag wurde, während hier noch Montag war. Mit anderen Worten waren unsere Rechnungen und Kalender ständig außer Balance. Übrigens sah ich sie nie wieder.
    Was sollte ich mit all dieser Trauer und Freiheit anfangen?
    Keine Ahnung.
    Freiheit ist unbrauchbar für uns. Trauer dagegen können wir benutzen. Aber nicht Trauer und Freiheit zugleich.
    Eine Uhr schlug, und einen Moment lang glaubte ich, es wäre die alte Standuhr, die ihre Schläge von Besserud in den Skovveien schickte, ein harter, unerbittlicher Applaus mit Getrampel, der enden würde, wenn ich mich verabschiedete. Es waren die Kirchenglocken, die ich hörte. Ich lag auf dem lit de parade in dem großen Schlafsaal, auch Mäusehalle genannt, im Rikshospital in Oslo, und es war Sonntag. Ich hatte meinen Junggesellenabschied hinter mir. Es war der Tag, an dem ich zum Altar gehen sollte! Oh, du Schwanz im Riesenrad! Oh Christchurch und Westminster und Frau Bye und Notto Fipp! Schleifen! Ringe! Hobel! Frisch geputzte Schuhe! Rasierschaum! Bauchbinde! Mundwasser! Hosenträger! Der Roadster! Und wir mussten vor zwei Uhr in Drammen sein! War ich dabei, ein neues Repertoire aufzustellen, hier, wo ich lag, nämlich die Toten nachzuahmen? Das hätte gerade noch gefehlt. Das wäre sozusagen der Nagel zu meinem Sarg gewesen. Also sprang ich doch auf und schrie los, und falls meine Freunde irgendwo standen und mich beobachteten, so hatten sie wirklich etwas zu lachen, Krupp und Hippokrates, aber es war diese Vigdis Juliussen, die im Weg lag, und ich konnte sie ganz einfach nicht so daliegen lassen. War ich schuld an ihrem Tod? War ich so grob mit ihr umgegangen? Das musste ich herausfinden. Ich holte die Werkzeuge, Messer, Scheren, Säge, Skalpelle, dieses blankgeputzte Besteck, mit dem ich noch nicht vertraut war, aber von dem ich wusste, in welcher Reihenfolge es bei der Mahlzeit benutzt wurde, so nannten wir es, natürlich niemals in Gegenwart von Direktor Lund, die Toten dagegen tun ja nichts zur Sache. Also zog ich den Regenmantel an, wie man merkt, waren wir nicht besonders empfindlich oder sensibel in unseren sprachlichen Bildern, zog das Laken zur Seite und betrachtete Vigdis Juliussens Körper, den selbst die Einsamkeit verlassen hatte, zusammen mit den Schmerzen, der Misshandlung, der Erniedrigung. Sie war letztendlich sie selbst. Darf ich das so sagen? Eine Leichenöffnung ist übrigens nicht nur für den Arzt und die nächsten Angehörigen von Interesse, sondern im Interesse der gesamten Menschheit, denn sie hilft der medizinischen Wissenschaft voranzukommen, sie deckt das auf, was verschleiert ist, fügt das hinzu, an dem es mangelt. Einem derartigen Unternehmen Hindernisse in den Weg zu stellen ist ganz einfach der Gegensatz von Kultur und Zivilisation. Eine Leichenöffnung an sich ist ja äußerst unangenehm für den Arzt, und deshalb sollte die persönliche Aufopferung wertgeschätzt, ja, lobgepriesen werden und in keiner Form misstrauisch beäugt. Eine Obduktion kann übrigens vollständig durchgeführt werden, wenn alle Hohlräume untersucht werden, oder sie kann teilweise und eingeschränkt unternommen werden. Vigdis Juliussen, ich komme! Ich werde nur teilweise und eingeschränkt vorgehen. Und zu meiner Verblüffung, nein, fast zu meinem Schrecken sah ich, dass meine Hände nicht zitterten. Sie waren sicher wie Elfenbein. Das Skalpell und die Säge, Messer und Gabel, sie lagen wie angegossen in meinen Händen. Und das sogar damals, nach dieser Nacht. In der Gegenwart der Toten war ich frei, solange die Angehörigen mir nicht zu nahe kamen, sie sind das Schlimmste von allem. Ich setzte einen Schnitt von der Halsgrube bis zur Scham, breitete

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