Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Gedanken in gleichem Maße abmagern wie der Körper, und der Betreffende läuft Gefahr, sich zu irren, falsche, schicksalsschwere Entscheidungen zu treffen, er kann Visionen haben, unnötige Risiken eingehen, das Gedächtnis verlieren. Man denke nur an Scott und Amundsen.
»Wenn du hier dein Lager aufschlägst, kannst du morgen früh ausgeruht nach Oslo hineingehen und es sogar noch schaffen, umzukehren.«
»Jetzt oder nie«, wiederholte Notto.
So war er, stur, nicht verwirrt und schicksalsergeben. Er war aus einem seltenen Guss, nämlich aus einem Guss.
Als wir schließlich die Stadtgrenze erreichten, bei Skøyen, um 18.44 Uhr, und auch wenn wir hier an einem der dramatischsten Punkte in Notto Fipps Karriere sind, so werde ich schnell vorangehen und die Leiden nicht ausmalen, denn Leiden gab es genug. Ich fuhr wieder an seine Seite.
»Jetzt hast du dein erstes Ziel erreicht, Notto. Willst du dich nicht hinlegen oder umkehren?«
Auch dieses Mal blieb er nicht stehen. Er ging und flüsterte dabei:
»Ich will erst zum Parlamentsgebäude.«
»Zum Parlamentsgebäude? Was willst du denn da?«
»Das ist der richtige Punkt für die Kehrtwende.«
»Dann können wir in Frau Byes Hotel übernachten«, sagte ich.
»Kommt nicht in Frage.«
Lasst es mich folgendermaßen sagen: Notto Fipp sah nicht gut aus. Auf seinem Rücken baumelte sein Gepäck an ein paar Gummibändern. Der Strohhut war in alle Richtungen zerfleddert, ebenso der Regenschirm, der kaum noch Regen abhalten würde. Die Knöpfe an seinem Hemd waren verschwunden, es hing nur noch mit Sicherheitsnadeln zusammen, vielleicht seinerzeit in Hvals Nadelfabrik produziert? Wer weiß. Das wäre doch ein ehrenvoller Wink des Schicksals, Gottes oder der Toten gewesen. Eine Milchflasche hatte er an einer Schnur über der Schulter hängen und reife, fast braune Bananen um den Hals. Er hatte dreizehn Kilo abgenommen. Und in dieser Verfassung begegnete die gesammelte Osloer Presse Notto Fipp, und wenn er noch nicht berühmt war, dann wurde er es jetzt.
Der Weg zurück nach Kristiansand war ein einziger Triumphmarsch. Der Startschuss fiel um 13 Uhr, am 22. September 1929. In aller Kürze können die Ereignisse folgendermaßen beschrieben werden: Notto hatte für sich geplant, die Tour in vier Tagen zu schaffen, sicherheitshalber hatte er aber auf mein Anraten hin der Presse gegenüber von sechs Tagen gesprochen. Anfangs ging es »wie geschmiert«, wie man zu sagen pflegt. Für die ersten hundert Kilometer brauchte er zweiundzwanzigeinhalb Stunden. Doch danach ließ er es ruhiger angehen und erreichte Kristiansand, nachdem er 400 km zurückgelegt hatte, in vier Tagen und zehn Stunden.
Ein Pressemensch schrieb: Notto Fipp ist ein reines Wunder, ein Troll im Gehen, hundert Kilometer am Tag sind eine Bagatelle und ein Vergnügen für ihn. Nur ungern lässt er sich von so etwas Materialistischem wie Essen in seinem intensiven Marschvergnügen stören, ihm genügen die Milchflasche an einer Schnur und eine Handvoll Bananen. Er ist ein wandernder Fakir, ein Protest gegen die Pferdestärken und Motoren. Er geht, bis er fällt, und buchstäblich fiel er über die Ziellinie, wie ein erschöpfter Sieger, gekleidet in einen sonderbaren Frack.
Wie gesagt, mir gefielen diese Schreibereien nicht, dieser leicht dahingeworfene Jargon, der sich in der einen Zeile widersprach und in der nächsten in jeder Hinsicht unkorrekt war. Zuerst ist die Wanderung eine Bagatelle und ein Vergnügen, etwas, das Nottos Anstrengungen kleiner erscheinen lässt. Wer würde über Nansen sagen, dass seine Expedition ein reines Vergnügen war? Anschließend fällt derselbe Notto, dessen Einsatz kurz zuvor nur eine Bagatelle war, ins Ziel, was auch nicht wahr ist, aber diese Journalisten wollten um jeden Preis alles in beide Richtungen auswalzen und waren gar nicht an dem Inhalt interessiert, solange es elegant klang.
Denn was Notto Fipp betrifft, sind gar keine Übertreibungen nötig. Kristiansand war in heller Aufregung, als er sich der Stadtgrenze näherte, an einem Samstagabend um zehn Uhr. Kurz vorher war er hinter einem Baum verschwunden. Ich ging davon aus, dass er sich erleichtern wollte, und nahm das als gutes Zeichen. Doch als er wieder zum Vorschein kam, zeigte sich, dass dem nicht so war. Endlich durfte ich sehen, was er in seinem Beutel versteckt hatte: den Frack! Notto Fipp wollte das letzte Stück im Frack gehen. Er hatte ihn sogar ganz allein angezogen. Welche Krönung des Werks! Wer sonst
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