Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
gleich zu welcher Jahreszeit. Das konnte Vater leichter ertragen. Und ein anderer Gedanke drängte sich mir auf: Was machte man auf einer Hochzeitsreise? Ich war der Beste meines Jahrgangs, aber das wusste ich nicht. Warum hatte ich niemanden gefragt? Welche Anforderungen oder Wünsche musste ich erfüllen? Musste ich Geschenke kaufen, wo doch die Reise an sich schon ein Geschenk war? Musste ich nach ihrer Pfeife tanzen? Musste ich etwa sogar Tennis spielen? Wen hätte ich fragen sollen? Wir wollten drei Wochen in Nizza verbringen, und das bedeutete, dass die Monatswelle käme, bevor wir nach Hause fuhren. Bis jetzt waren wir nie länger als zwei Tage allein miteinander zusammen gewesen. Und nun standen uns drei Wochen und der Rest des Lebens bevor. Wie sollte ich mich verhalten? Ich musste eine Runde mit den Armen im Abteil rudern. Ich war meine eigene Windmühle. Sigrid war kurz davor aufzuwachen, sie drehte sich wieder, schlief aber dann doch weiter, die Lippen, die trotz der bleichen Haut oder vielleicht gerade deshalb rot und voll erschienen, rutschten in eine Ecke des Gesichts, und wieder überfiel mich diese verdammte Diplopie, ich sah doppelt, Zukunft und Vergangenheit, mit dem Moment vermischt, der gerade jetzt zu dem harten Rhythmus der Bahn auf dem Weg war. Ich sah das Kind und den Tod, die Unschuld und den Verrat. Natürlich war ich einfach nur müde. Ich war überanstrengt. Die Hochzeitsreise, das sind Ferien, sagte ich. Nicht wahr, Sigrid? Wir können machen, was wir wollen. Aber wir, die Kantigen, können nicht machen, was wir wollen. Wir müssen uns in Acht nehmen. Wir müssen uns im Zaume halten. Sigrid schlief durch Europa. Ich hätte gewünscht, Sigrid hätte mich im Zaume gehalten, so dass ich sie hätte halten können. Dafür braucht es zwei. Vorläufig musste ich mein Vertrauen auf die Leidenschaft setzen. Da hatte ich immer noch einen gewissen Spielraum. Grobian! In Paris mussten wir nicht nur den Zug wechseln, sondern auch den Bahnhof, und das war eine beschwerliche Reise quer durch diese Metropole, durch vielbefahrene, laute Straßen, über Bordsteine und nochmals Bordsteine, vom Gare du Nord zum Gare du Lyon. Außerdem hatte Sigrid Gepäck für mehr als einen ganzen Kreuzzug dabei, vier Koffer, der eine größer, oder kleiner, als der andere, drei Taschen, zwei Tennisschläger und ebenso viele Hutschachteln. So war es nun einmal. Ich selbst begnügte mich mit einem Mäppchen mit dem Nötigsten: Schlaftabletten, Glaubersalz, Pipette, Pflaster und Riechsalz. Wovon wir das meiste brauchten. Mit Müh und Not erreichten wir die Eisenbahn Richtung Marseille, wo wir früh am nächsten Morgen vom hoteleigenen Omnibus abgeholt und entlang dieser unbezahlbaren Küste gefahren wurden, von der ich bisher nur Gerüchte gehört und Bilder gesehen hatte, aber die Farben, welche Farben im Verhältnis zu Norwegens Granit! Weiße Strände, rote Klippen und grüne, weitgestreckte Wellen, die gegen das Land schlugen und zurück in den Himmel rollten, Indigo, woher sie kamen. Und vor dem Westminster Hotel in Nizza wartete eine ganze Armee auf uns, Piccolos, Empfangspersonal, Oberkellner, Kellner, Kaltmamsellen, Chauffeure, Telegrafistinnen, Laufburschen, Barkeeper und ich weiß nicht was noch, alle nach ihrem Rang laut der strengen Disziplin des Hotels gekleidet. Das war nach meinem Geschmack. Hier gab es keine Möglichkeiten für Missverständnisse. Der Oberkellner hatte eine weiße Schleife, der Kellner eine schwarze, die Lehrlinge trugen weiße Jacken, während der Piccolo in eine rote Uniform mit einer drolligen Mütze auf dem Kopf gekleidet war und das Empfangspersonal sich durch ihre doppelreihigen gelben Jacken unterschieden. Wir wurden auf unser Zimmer, oder besser gesagt, unsere Suite gebracht, um nicht zu sagen, unsere Wohnung, die aus einem chambre á coucher bestand, mit doppeltem Himmelbett, une salle de bain, mit Badewanne, zwei Waschbecken, zwei ovalen Spiegeln und Fliesen sowohl auf dem Boden als auch an den Wänden, und un salon privé , in dem alles, was man brauchte, in Reichweite war. Champagner stand in allen Räumen im Sektkühler, und diese ganze Armee wieder loszuwerden, war keine billige Angelegenheit. Trinkgelder sind nicht mein Gebiet. Wie viel soll man wem geben? Wie viel ist zu wenig und umgekehrt, wie viel ist zu viel? Trinkgelder sollten verboten sein, genau wie Betteln. Entweder die Gehälter werden erhöht, oder das Personal kann eine Spardose aufstellen oder eine Schale, in der
Weitere Kostenlose Bücher