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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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verhärtete ihn nicht, es härtete ihn nur ab. Und der Vater ertrug es nicht, dass der Sohn es ertrug. Es ließ ihn nur noch wütender werden. Eines Tages zeigte der Vater auf den Schleifstein.
    »Willst du lieber dort eine Runde drehen?«, schrie er.
    Und der Vater schob Notto dorthin, zum Schleifstein, presste sein Gesicht nach unten und fing an zu kurbeln, und Notto sah, wie sich das steinerne, funkensprühende Rad drehte und drehte, so nah an seinem Gesicht, dass es in den Augen brannte.
    Lassen Sie mich einen Moment bei diesem Schleifstein von Senum verweilen. Der Schleifstein hat seine Aufgabe. Es ist seine Aufgabe, Waffen und Werkzeug zu schärfen, Messer, Sensen, Äxte, Scheren. Er soll sie schärfer machen, damit auch sie ihre Aufgabe erfüllen können, töten, stechen, hauen, schlachten, Fische säubern. Bei uns will der Schleifstein das Gegenteil erreichen. Er will uns abrunden, die Ecken und Kanten glätten. Und es ist uns eingeredet worden, dass das nur zu unserem Besten geschieht. Es kommt sogar manchmal vor, dass wir uns freiwillig schleifen lassen, dass wir uns gegen diesen hitzigen Stein lehnen und unsere Eigenheiten, unsere Signaturen abfeilen, bis wir wer auch immer sein können.
    Aber nicht Notto.
    Notto konnte geschlagen werden, herumkommandiert, übersehen und hinausgeworfen, aber schleifen, das ließ er sich niemals.
    Da kam die Mutter vom Fluss her angelaufen, sie schrie, Wäsche und Laken lagen hinter ihr verstreut auf der Erde. Der Vater ließ von Notto ab und verschwand im Wald, er blieb zwei Tage lang verschwunden.
    Und es wurde nicht besser dadurch, dass Olga keine weiteren Früchte trug, trotz aller Anstrengungen in dieser Beziehung. Sie schliefen nicht mehr miteinander. Die große Kälte hielt in Senum Einzug. War Notto die einzige Frucht, die von ihrem Stamm fallen sollte, eine Frucht, die noch nicht einmal ihren korrekten Namen bekommen hatte?
    Oh, Pisanglikör aus musa sapientum!
    Psst.
    Olga schwieg immer noch, denn sie hatte zu lange damit gewartet, es zu sagen, und wenn man zu lange damit wartet, die Wahrheit zu sagen, dann ist mit einer Lüge zu rechnen. Sie erzählte nicht, was der Doktor gesagt hatte, dass sie nach Notto kinderlos bleiben würde.
    Deshalb legte sie sich über Notto, der stumm mit dem Gesicht im feuchten Gras neben dem Schleifstein lag, und sie versuchte nicht zu weinen, doch als sie seinen Rücken sah, da schaffte sie es nicht mehr, sie weinte, und die Tränen liefen in die Wunden, doch Notto gab immer noch keinen Laut von sich.
    »Es wird nicht wieder geschehen«, flüsterte die Mutter. »Das verspreche ich dir.«
    Notto blieb immer noch stumm.
    Die Stimme der Mutter veränderte sich:
    »Wenn er dich noch einmal schlägt, dann bringe ich ihn um.«
    Da sagte Notto endlich etwas:
    »Tu das nicht.«
    »Was?«
    »Es ist nicht Vaters Schuld.«
    »Was meinst du damit, Notto?«
    Er drehte sich auf den Rücken, ohne zu jammern.
    »Es ist nicht Vaters Schuld«, wiederholte er.
    »Nicht Vaters Schuld? Aber Vater ist es doch, der dich schlägt.«
    Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf die Stirn, die nach der Abfuhr am Schleifstein immer noch warm war.
    »Er tut es meinetwegen«, sagte Notto.
    Die Mutter verstand ihn nicht, und ich mache ihr deshalb keinen Vorwurf, denn wer konnte Notto wohl voll und ganz verstehen? Selbst ich konnte es nicht, und so soll es auch sein. In jedem Menschen muss es etwas geben, das man nicht erreichen kann, ganz gleich, wie sehr man sich auch bemüht. Die Mutter schaute auf den mageren Körper und das lange Gesicht, das dünne Haar, den gierigen Mund, die großen Augen, er sah wie ein Kind und gleichzeitig wie ein Greis aus. Das war ihr Junge, der Einzige, den sie hatte kriegen können, und sie verstand ihn nicht.
    Sie sagte nur:
    »Musst du so viel gehen, Notto?«
    Notto wurde unruhig. Er wand sich unter seiner Mutter und schaute hinauf, zum Himmel hinter ihr, auf die Wolken, die in einer langen Folge dahinzogen, doch bald schon verschwanden Himmel wie Wolken, auch das Gesicht seiner Mutter verschwand, und alles, was er sehen konnte, das waren ihre großen, schweren Brüste unter dem weißen Pullover, und er konnte nicht anders, er griff danach, mit beiden Händen, durstig, voller Zwang und Begierde, die Mutter riss seine Arme fort, denn es gibt zwar Volksgruppen und finstere Stämme, bei denen die Mütter ihre Kinder stillen, bis sie sechs oder sieben Jahre alt sind, doch hier auf Senum wäre selbst das reichlich spät gewesen, und Notto

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