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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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erinnere ich mich. Alma hatte einen speziellen Tee gekocht, aus Baldrian, er war besonders stärkend, wie sie behauptete, und das konnte ich gebrauchen, denn ich sollte bald mein letztes Examen ablegen, den dritten Abschnitt. Mit anderen Worten: Es war Frühling.
    »Was für eine Nase habe ich?«, fragte ich.
    Alma schaute mich verblüfft und fröhlich an.
    »Was für eine Nase?«
    »Ja, wie sieht sie aus?«
    Sie legte ihren Kopf ein wenig schräg, so dass ihr gesamtes Gesicht noch blasser wurde.
    »Du bist ein merkwürdiger Junge«, sagte sie.
    »Bin ich das? Wieso?«
    »Kannst du dich nicht einfach selbst im Spiegel anschauen?«
    »Ich möchte, dass du mir das sagst.«
    »Soll ich dein Spiegel sein?«
    »Ja.«
    Alma kam zwischen den Pflanzen einen Schritt auf mich zu. Erst jetzt spürte ich, wie warm es hier drinnen war. Mein Nacken war ganz feucht. Vielleicht lag es an dem starken Tee. Ihr Kleid lag feucht und eng an der Haut. Vielleicht war es nur der helle Portwein.
    »Entschuldigung«, sagte sie plötzlich.
    »Wofür?«
    »Dass ich dich einen Jungen genannt habe. Du bist erwachsen. Du bist jetzt ein Mann, Bernhard.«
    Ich wurde verlegen.
    »Das macht nichts.«
    »Sieh mich an.«
    »Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich habe nur Spaß gemacht.«
    »Du musst mich ansehen, Bernhard. Wenn ich dein Spiegel sein soll.«
    Ich schaute auf, erwiderte ihren Blick, schloss die Augen und spürte ihre Hand auf meinem Gesicht.
    Ach, ich bin doch nichts anderes als ein simpler Belletrist!
    Außerdem brach ich die Regel Nummer 1 nach allen Regeln.
    Ich hoffte nur, sie würde sagen, dass ich eine gebrochene Nase hatte oder dass sie zumindest lang und krumm war, sie durfte nur nicht sagen, dass sie stumpf war.
    Doch bevor Alma so weit gekommen war, meine Nase zu bestimmen, hörte ich jemand anderen sagen:
    »Gentiana purpurea. Der enthält einen speziellen Stoff, der auch Bestandteil der sogenannten bitteren Tropfen ist. Die man auch in der Apotheke findet.«
    Wie lange Zeit verging, bis ich die Augen wieder öffnete und mich der Tür zuwandte, in der sich Direktor Lund an den Rahmen lehnte, mit einem halbvollen Glas in der Hand, offenem Hemdenkragen und hängender Fliege. Wo war Alma? Alma stand mit dem Rücken zu uns weiter hinten in ihrem Wintergarten.
    »Direktor Lund«, sagte ich.
    »Ja, Bernhard. Was gibt es?«
    »Ich muss leider schon gehen.«
    Wir blieben stehen.
    Hilf mir, Alma! Aber Alma war selbst hilflos. Welche Regeln galten jetzt? Keine. Ich war außerhalb jeder Ordnung.
    Schließlich kam Lund zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Tu das, Bernhard. Du hast andere Examina, die du bestehen musst.«
    Ich ging. Auf direktem Weg nach Hause. In den Skovveien. Lernte. Der Termin rückte näher. Dritter Abschnitt. Prüfung in medizinischer und chirurgischer Klinik. Wie gesagt. Bevor sie so weit gekommen waren. Bevor ich weitergekommen war. Wie gesagt. Intakt. Ganz und gar. Doch wie weit waren unsere Gedanken gekommen? Die Lehre von Frauenzimmern und Kinderkrankheiten. Meine Gedanken waren weit genug gekommen. Ja, das waren sie. Gerichtsmedizin. Gelten sie? Gelten die Gedanken, diese schmutzigen Gedanken? Hygiene. Repetieren. Ich wusch mir die Hände acht Stunden am Stück, bis die Nachbarin, diese Meckertante, die Vielphrase, vor der Tür erschien und schrie, dass es bald im ganzen Haus kein Wasser mehr gäbe. Ich zog mir wieder die Handschuhe an. Dann war der Tag, waren die Tage gekommen. Das Examen sollte beginnen. Alfred fuhr mich zur Universität. Wir sagten nichts. Auf den Treppen, zwischen den Säulen, standen die anderen Kandidaten und rauchten hektisch. Aber ich, ich hatte gleich zwei Fächer, in denen ich geprüft werden sollte: Medizin und Ordnungssinn. Ich durfte nicht schnauben. Ich durfte nicht prusten. Auch nicht trampeln, keine Purzelbäume schlagen oder spucken, um Gottes willen, nicht beim medizinischen Staatsexamen! Das sage ich ja immer: Wir, die Kantigen, haben immer doppelt so viel zu tun, deshalb sollte die Zeit, die uns zur Verfügung steht, verdoppelt werden. Das habe ich schon früher gesagt. Und das ist es, was ich immer wieder sage! Aber ich möchte lieber fortfahren, nicht an diesem Punkt im Kapitel verweilen, denn diese Tage im Mai 1929 erscheinen mir im Rückblick unklar und irreführend, oh ja. Nur als Anmerkung: die Stille im Saal, die grünen Lampen, der Blick des Prüfungsvorsitzenden, dann das Knistern des Umschlags, in dem die Aufgaben lagen. Und los!

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