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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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müssen aufpassen, damit du dich nicht erkältest«, sagte Alfred.
    »Ich glaube, wir sind bald wieder beim Du!«, rief ich.
    Und ich öffnete meine Aktentasche und ließ 2154 linierte, dicht beschriebene Blätter davonwehen, wie einen paginierten lateinischen Schwarm über Kristiania.
    So begann mein neues Leben.
    Was sollte ich mit Freiheit? Die Freiheit war unnütz. Das habe ich früher schon erwähnt. Die grenzenlose Freiheit ist ein Gefängnis. Wir, die Kantigen, sind Ordnungsmenschen. Ich brauchte Regeln. Ohne sie sind wir verloren. Und das sind die zehn Regeln, die Bernhard Hval einführte: 1. Vermeide, soweit es möglich ist, den Umgang mit anderen Menschen, besonders mit Frauen. 2. Trage Schuhe mit weicher Sohle, im Falle des Trampelns oder Purzelbaumschlagens. 3. Vermeide Zahlen, soweit sich das machen lässt. 4. Trage immer ein oder zwei große Taschentücher bei dir, für den Fall des Schnaubens, Schluckens, Spuckens (siehe auch Regel 5), tic convulsif oder lapsus linguae (siehe auch Regel 6). 5. Trage auch immer eine Dettweiler Spuckflasche bei dir. 6. Sprich so wenig wie möglich. 7. Habe so wenige Möbel und Lampen wie möglich und keine Spiegel. 8. Trage Handschuhe, für den Fall des Fingerknackens, und Hemden mit weiten Ärmeln für den Fall des Armstemmens oder der Rotation. 9. Überlasse nichts dem Zufall. 10. Verstoße nicht gegen diese Regeln.
    In meinem Ordnungssystem fiel ich zur Ruhe. Das war meine Freiheit, solange sie anhielt. Ich fand nicht mich selbst, doch meinen Stil, das heißt, meinen Lebensstil. Ich war ein Soldat, bewaffnet mit Routinen und Requisiten. Nur auf diese Art und Weise konnte ich überleben und meine Examina durchführen und sie mit Glanz bestehen: erster Abschnitt, laudabilis. Ich verlor einen Punkt bei der Botanik. Ich möchte hier in Klammern anmerken, dass die Universität 1922 zusätzlich zu den vier lateinischen Noten auch ein Zahlensystem von 1 bis 12 einführte, was es mir schwermachte, die dritte Regel einzuhalten. In diesem Zusammenhang tauschte ich die numerische Reihenfolge sofort gegen Buchstaben aus, also von A bis J. Sollte ich meine eigenen Zahlen einführen, wenn die Regel doch lautete, Zahlen zu vermeiden? Ich brach die Regel bereits, indem ich sie aufstellte. Ab jetzt nur Buchstaben! Laudabilis entsprach übrigens der 10 auf der Skala. Das erkläre ich nur einmal. Zweiter Abschnitt: Pharmakologie, Toxikologie, allgemeine Pathologie und Anatomie, die Lehre von Hautkrankheiten und Ophthalmiatrik, sowie eine schriftliche Hausarbeit über eine Aufgabe in einer der hier zum zweiten Abschnitt gehörenden Disziplinen. Ich entschied mich für die Nase, die im wahrsten Sinne des Wortes der hervorragendste Teil des Gesichts und von großer Bedeutung für dessen Prägung ist. Ich benutzte Professor Hyrtls Topographische Anatomie als Sekundärquelle. Eine spitze Nase deutet auf einen wütenden Charakter hin, eine lange, schmale auf einen leichtsinnigen, eine kleine auf Wankelmut, eine stumpfe auf Einfalt, eine gebrochene Nase auf Sinnlichkeit, eine lange, krumme auf Mut und eine große, dicke auf Brutalität. Was für eine Nase hatte ich? Ich konnte mich nicht mehr an meine eigene Nase erinnern. Ich betastete sie und drückte sie, konnte mich aber nicht entscheiden. War sie spitz oder lang und schmal? Da ich die Regel 7, ich meine G, nicht brechen wollte, suchte ich stattdessen ein altes Foto heraus, ein Klassenfoto von der Vinderen Schule. Es war das Letzte, das von mir gemacht worden war. Doch mein Gesicht war zu undeutlich. Das Licht war verschwunden. Ich hatte keine Züge mehr. Dieser schriftliche Prüfungsteil zog den Durchschnitt etwas herab, aber ich behielt zumindest mein laudabilis und hatte die verlorene Zeit, meine schwarzen Semester, wieder aufgeholt. Das Medizinstudium war nämlich geöffnet worden, wie Direktor Lund es so weise vorausgesehen hatte, was meine Rettung wurde. Die Mittelmäßigkeit hielt Einzug, und es bildete sich eine Schlange zwischen den Abschnitten, und in diese Schlange der Mittelmäßigkeit konnte ich schlüpfen, die anderen einholen und der Beste meines Jahrgangs werden.
    Übrigens vergaß ich die Regel K: die Besuche bei den Lunds.
    Und wie ich diese Besuche genoss! Ich gab Alfred sonntags immer frei, damit ich gehen konnte, vom Skovveien hoch zur Lyder Sagens gate, und mich nur freute, auf die Gespräche, das Beisammensein, die Stille, die auch auftreten konnte, das Wasser, das besser als irgendwo sonst schmeckte, ja, manchmal

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