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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dass eine Tür nur angelehnt war. Zu einem Einzelzimmer. Ein Junge lag dort. Er schlief, wie ich annahm, die Augen waren geschlossen, und er hatte die Hände über der Bettdecke gefaltet. Er wirkte so einsam, obwohl er doch schlief. Ich ging zu ihm hinein, zog einen Stuhl ans Bett heran, setzte mich. Aus dem Krankenbericht konnte ich ersehen, dass der Junge Iver Karlsen hieß, elf Jahre alt war, also noch ein Kind, und dass er vor einer Woche mit einer schlimmen, aber trotzdem gewöhnlichen Mittelohrentzündung eingeliefert worden war, dazu noch mit hohem Fieber. Er war an diesem Abend ebenso still wie alles andere. Die Haut seines Gesichts glänzte wie Porzellan. Vorsichtig legte ich ihm die Hand auf die Stirn. Das Fieber war zumindest weg. Vielleicht träumte er etwas Schönes?
    »Was wünschst du dir zu Weihnachten, Iver?«
    Er antwortete nicht.
    »Das ist schlau von dir, Iver. Sag es niemandem. Es ist besser, überrascht zu werden. Sonst macht es keinen Spaß mehr, Geschenke zu bekommen. Aber du freust dich doch darauf, zu Weihnachten nach Hause zu kommen, nicht wahr? Das wirst du bestimmt. Zu Weihnachten zu Hause sein, meine ich. Freu dich ruhig darauf. Du hast doch keine Schmerzen, Iver?«
    Stimmen in der Tür.
    »Doktor Hval?«
    Ich drehte mich um.
    Eine Krankenschwester stand zwischen einem Ehepaar, höchstwahrscheinlich den Eltern des Jungen. Sie waren beide schwarz gekleidet. Der Mann schien wütend zu sein, in einer Art und Weise, die ich nicht begriff. Die Frau hob die Hände, als hätte sie eine Offenbarung.
    »Iver hat kein Fieber mehr«, sagte ich leise. »Er …«
    Die Krankenschwester unterbrach mich. Ich wurde wütend und wollte ihr eine Rüge erteilen, aber sie kam mir zuvor.
    »Er ist tot«, flüsterte, nein, zischte sie.
    »Tot?«
    »Um Gottes willen, er ist heute Morgen eingeschlafen.«
    Ich drehte mich wieder zu dem Jungen um. Da konnte ich es sehen. Die Augen waren geschlossen. Die, die es wissen müssen, sagen immer, und ich weiß es jetzt besser als die meisten: Das Licht in den Augen ist erloschen. Der Mensch selbst verschwindet damit.
    Eine Weile blieb ich schweigend stehen, kondolierte und ging dann meines Weges. Gehen darf man nicht wortwörtlich nehmen. Ich schlug ein Rad. Ich stieß mit dem Kopf gegen die Wände. Ich kam schließlich nach Hause in den Skovveien. Wie kann ein Kind einschlafen? Ein Kind mit Mittelohrentzündung? Ist das möglich? Rein fachlich gesehen: ja, es ist möglich. Es kommt auf die Summe der Leiden an. Jedes einzelne muss nicht mortal sein, aber alle zusammen führen sie zum Tod. Wie Direktor Lund sagte: keine Verletzung ist zu gering. Ein Splitter im Finger kann genauso katastrophal sein wie ein Axthieb.
    Aber dennoch, wie kann ein Kind für immer einschlafen?
    Noch eine schreckliche Nacht.
    Keinerlei Weihnachtsstimmung.
    Ira furor brevis est.
    Am nächsten Tag, also dem Tag vor Heiligabend, schaute ich beim Laboranten vorbei. Er war gerade auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie, Pakete in allen Händen.
    »Fröhliche Weihnachten«, sagte ich.
    »Danke gleichfalls.«
    »Ich wünsche euch richtig schöne Feiertage!«
    Der Laborant, der eigentlich ein ziemlich unscheinbarer Mann war, klein und pedantisch, ja, fast ekelhaft, nahm die Brille ab.
    »Haben Sie etwas auf dem Herzen, Hval?«
    »Ja, wenn Sie es schon ansprechen.«
    »Ich spreche gar nichts an. Was meinen Sie? Ich habe überhaupt nichts angesprochen.«
    Wie kleinlich kann man eigentlich sein? Der Spaßvogel nahm sich selbst ernst. Es war ein erbärmlicher Anblick.
    Ich lachte.
    »Natürlich nicht. Aber diese Spermienproben, wie kalt müssen die eigentlich aufbewahrt werden?«
    »Nicht unter vier Grad. Und nicht über elf. Ungefähr wie ein Gin Tonic. Warum?«
    »Dann möchte ich Ihnen noch einmal frohe Weihnachten wünschen. Und grüßen Sie Ihre Familie!«
    Fertig mit ihm.
    Ich sah Direktor Lund nicht, und auch nicht seine Ehefrau, Alma.
    Silvester war der Spaß dann jedoch vorbei. Ich nahm den Zug nach Drammen, wo mich mein Schwiegervater am Bahnhof abholte, all mein Sack und Pack auf dem Rücksitz verstaute, was nicht viel war, nur ein paar Geschenke und ein Koffer, und dann fuhren wir über die Brücke und das Tal entlang hinauf. Er wirkte bedrückt. Erwähnte Sigrid mit keinem Wort. Vielleicht hätte ich fragen sollen, wenn ich es recht bedenke, aber so etwas kann man leicht hinterher sagen.
    »Es ist bald unmöglich«, sagte er.
    Ich witterte Gefahr und ging vorsichtig vor.
    »Was?«
    »Der Fluss

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