Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
ging, um nach diesem Patienten zu sehen, der gefordert hatte, mich zu sehen, von Angesicht zu Angesicht. Ich, Bernhard Hval, dieses Rindvieh, ich langsamer Jammerlappen, ich, dieser schlechte Angeber und jämmerliche und unzuverlässige Menschenkenner! Ich sah die Zeichen nicht länger. Ich las nicht mehr den Text. Denn es war ja Notto Fipp, der dort saß, scheu und einsam, die Hände zwischen den Knien gefaltet, den Kopf gesenkt, so dass der oberste Teil des Rückgrats aussah wie Murmeln, die sich gegen die Haut pressten. Wer sonst, wenn nicht Notto Fipp! Sicher, die Krankenschwester hatte nicht übertrieben, ganz im Gegenteil, sie war noch schonend in ihrer Einschätzung gewesen. Wenn ich ihn schon früher in schlechter Verfassung gesehen hatte, so war es dieses Mal um Längen schlimmer. Verflucht sei Bodø! Verflucht sei unser langgestrecktes Land! Notto Fipp war hohlwangig, unrasiert und ungepflegt von Kopf bis Fuß. Die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leib. Er war bis auf die Haut abgemagert, dass man fast durch ihn hindurchsehen konnte, abgesehen von den Waden, die hässlich angeschwollen waren. Notto Fipp hatte sich also hierher zurückgeschleppt, um mich zu retten. Ich muss zugeben, mir kamen fast die Tränen, als ich mich neben ihn setzte.
»Wie geht es dir?«, fragte ich leise.
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich habe die Nachricht in der Wohnung gefunden. Und bin hergekommen.«
»Danke.«
»Ich bin derjenige, der sich bedanken muss.«
»Nein, das kann ich nicht zulassen.«
»Doch, ich schulde dir großen Dank.«
»Im Gegenteil, mein Freund. Ich schulde dir großen Dank.«
Notto richtete sich auf und nahm es wie ein Mann.
»Die Zeit läuft ab«, sagte er.
Und wer hätte das deutlicher sagen können als Notto Fipp? Die Zeit lief ab. Das ist mein einfaches Rezept, ganz gleich, bei welcher Krankheit und welchem Verlauf. Die Zeit läuft ab. Wollen wir das Leben verlängern oder den Tod?
»Sag das nicht«, musste ich wiederholen. »Im Gegenteil: Wir haben große Zeiten vor uns, Notto.«
»Inwiefern? Ich kann nirgends große Zeiten sehen.«
»Aber du wirst sie bald sehen. Doch zunächst müssen wir dich wieder auf die Beine kriegen.«
Sofort unterbrach Notto mich:
»Ich will nicht eingewiesen werden! Es reicht, wenn ich hier sitzen darf!«
»Es gibt andere Methoden, mein Freund. Aber zuerst muss ich mit meinem Vorgesetzten sprechen.«
Ich nahm alles, was ich noch an Mut besaß, zusammen und bat um ein Gespräch mit Direktor Lund, der wieder an seinem Platz war. Ich wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig dieses Gespräch war. Zu meiner großen Verwunderung wurde ich sofort vorgelassen. Doch vorher musste ich in eine Besenkammer und mich abhärten. Ich spuckte, trampelte im Takt, schluckte und heulte. Dann stand ich Aug in Aug mit Direktor Lund. Wir begrüßten uns. Die Begrüßung war förmlich, fast kühl. Er fuhr sich mit dem Finger den kräftigen weißen Schnurrbart entlang. Ich tat das Gleiche, abgesehen davon, dass ich keinen Schnurrbart hatte. Lund setzte sich. Ich blieb stehen, legte die Hände auf den Rücken und ließ sie dort.
»Es ist schwierig, es zu sagen«, sagte ich.
Lunds Blick verschattete sich.
»Hast du etwas zu sagen, was schwierig ist, Hval?«
»Das versuche ich ja gerade zu sagen.«
Seine Fäuste lagen geballt auf dem Schreibtisch.
»Dann sag es, Hval. Sag es einfach!«
Ich holte tief Luft.
»Ich muss noch einmal um einen Urlaub bitten. Die Bedeutung des Gehens und der Disziplin soll zu neuen Höhen erhoben werden. Ich habe, wenn ich es selbst so sagen darf, große Pläne.«
Direktor Lund schaute mich an, während ich sprach. Er begann zu lachen, noch bevor ich fertig war. Das fand ich unpassend, konnte aber zumindest sagen, was ich sagen wollte.
»Du hast meine volle Zustimmung«, sagte er.
»Danke. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Der Direktor blätterte in irgendwelchen Papieren, und ich eilte zur Tür. Doch dort blieb ich stehen. Ich hatte noch etwas vergessen.
»Darf ich euch beiden zum Sohn gratulieren! Und meine allerherzlichsten Glückwünsche an Alma. Ich meine, an Ihre Gattin.«
Lund schaute auf, sein Blick war wieder aus dem Lot geraten.
»Ein Wunder in der Pilestredet, nicht wahr?«
»Besser hätte ich es nicht sagen können.«
»Aber warst du es nicht, der es zuerst gesagt hat, Bernhard? Ein Wunder in der Pilestredet.«
Dass ich nicht meinen Mund halten konnte! Dass ich mich nicht an die Regeln halten konnte, das Grundgesetz der
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