Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
man sehen?«
Sie wurde ganz formell und abweisend, als hätten wir nie zusammen im Wintergarten gestanden, so nahe, dass ich mich noch erinnerte, wie ihr Nacken und Haar dufteten.
»Ich will zu meinem Mann. Er arbeitet heute noch spät.«
»Er arbeitet immer spät«, sagte ich.
Ich schaute das Kind an, das immer noch in den Armen seiner Mutter schlief, es war ein anderer Schlaf, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, ein ruhiger, lautloser, befreiender Schlaf, das neue Gesicht so weich und entschlossen, und ich fragte mich, ob ich jemals in gleicher Weise geschlafen hatte. Ich hob die Hand und hätte so gern die Stirn des Kindes berührt, die gerunzelte Stirn des Kindes, doch da zog Alma Lund sich zurück, und ihre Stimme war nur wie ein Hauch.
»Nein.«
Das war das Letzte, was sie zu mir sagte, Nein, ganz einfach Nein, und dann ging sie weiter, schnell, entschlossen, und verschwand auf den Fluren, auf dem Weg zu ihrem Mann.
Nunc vino pellite curas!
Ich fuhr hoch nach Besserud, und dort liebte ich Sigrid, ich, der Pathologe und Eunuch, mit all dem Schmerz, den ich ertragen konnte.
DAS FARBBAND
Vor kurzem geschah etwas, das mich tief erschütterte und fast diese Festschrift hier in Gefahr brachte. Das Farbband der Schreibmaschine nutzte sich ab. Die Buchstaben wurden immer schwächer auf dem Blatt, bald waren es nur noch Abdrücke auf dem Papier, unleserlich. Mit diesem banalen und vorhersehbaren Hindernis hatte ich nicht gerechnet, ich, der ich dachte, ich hätte alles bis ins kleinste Detail und mit größter Sorgfalt geplant. Aber nein, ein Farbband! Ein Farbband stand im Weg! Taschenkrebs! Glaubst du, du kannst mich zum Schweigen bringen? Musste ich jetzt zum Bleistift greifen? Nein, das würde meine Hand nicht aushalten. Musste ich hinunter zu Langbrecke, dem Buchladen in der Bygdøy allé, und ein neues Farbband besorgen, musste ich also das Haus verlassen? Nein, das hätte ich ganz einfach nicht ertragen. Das Einzige, was mir blieb: Ich musste mich kurz fassen. Ich trampelte in der dunklen Wohnung herum, spuckte, heulte und schluckte und war sehr weit unten angelangt. Ich versuchte sogar mit den Zähnen zu knirschen, aber wie schon gesagt war mein Mund weich und glatt, und das brachte keine Linderung. Das war nur ein Gefühl, wie auf einem weichen Karamellbonbon zu lutschen. Sollte diese Festschrift auch unvollendet bleiben wie das meiste in meinem Leben? Ein Gedanke kam mir: Ich konnte die Nachbarin über mir bitten, mir ein Farbband zu besorgen! Hatte ich damals etwa nicht ihr Leben gerettet, indem ich stehenden Fußes eine Diagnose stellte? War sie mir dafür nicht etwas schuldig? Ich war bereits auf dem Weg zur Tür, als mir einfiel, dass sie natürlich tot war, vor vielen Jahren gestorben, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann, und es ist ja auch nicht so wichtig. Noch weiter unten. Das Einzige, was mir blieb: mich kurz zu fassen.
Krankenbericht:
Februar, 3./4. Woche, 1930: Notto macht Fortschritte. Leichte Übungen drinnen. Strenge Diät. Bananen, Milch, Zuckerwasser.
März, 1./2. Woche: Notto möchte Tabak haben, den er kauen kann. Ich lehne das ab. Er beklagt sich, dass er fett wird. Schwierige Periode. Bin kurz davor, den Mut zu verlieren. Aber ich gebe nicht auf.
März, 3./4. Woche: Wir nehmen uns einen Tag nach dem anderen vor. Disziplin. Gehen von Raum zu Raum. Es gibt bald einen Pfad, dem wir auf dem Fußboden folgen können.
April, 1./2. Woche: Die Nachbarin beschwert sich über den Lärm. Sie kam an die Tür. Hat eine Narbe vom Leberfleck. Trotz allem besser, als zu sterben. Ich hätte ihr ins Gesicht spucken können. Stattdessen habe ich mich entschuldigt. Es war sowieso an der Zeit, die Übungen nach draußen zu verlegen.
April, 3./4. Woche: Wir gehen durch die Straßen. Zufrieden und besorgt zugleich. Nottos Knöchel sind noch nicht verheilt. Massage. Umschläge. Fußsalbe.
Mai, 1./2. Woche: Studiere die Karte. Fridtjof Nansen stirbt. Lassen uns nicht stören.
Mai, 3./4. Woche: Draußen. Drei Stunden. Um Bygdøy. Optimismus. Notto scheint gesund zu sein.
Juni, der siebte: Sigrid verzweifelt, wieder eine Blutung. Hat eine Vase zerschmettert. Hat nicht mich ausgeschimpft, sondern Notto. War Notto der Einzige, an den ich dachte? Hat sich in den Schlaf geweint. Ich bin böse.
Juni, 3./4. Woche: Notto in seinem Element. Geht, wie ich ihn noch nie habe gehen sehen. Schneidet sich die Haare, stutzt den Spitzbart. Er will unbedingt die gleiche Kleidung wie früher anziehen. Ist
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