Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
zu schädigen. Schließlich kam er zur Vernunft, nahm ein Seil, legte es sich zweimal um den Hals und zog es mit den eigenen Händen so fest zu, wie er nur konnte. Er wurde erstickt aufgefunden. In seiner Buchführung war wohl so einiges durcheinandergeraten. Aber man darf sich nie weigern, eine Obduktion durchzuführen, ganz gleich, wie eklig es werden kann, beispielsweise bei ertrunkenen oder verbrannten Personen. Aber ich dachte nicht mehr gerichtsmedizinisch. Ich dachte an Notto. Ich dachte an eine Revanche. Doch die Toten beklagten sich nicht. Wie gesagt, die Toten sind sachlich. Die Gerichtsmedizinische Kommission war ebenfalls sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Die Mäusehalle gehörte endlich mir. Sigrid erklärte wiederholte Male, dass ich nach Leichen roch. Ich glaubte, sie würde einen Spaß machen. Doch das tat sie nicht. Sie hielt sich, oder mich, auf Abstand. Damit konnten wir beide leben. Nach Lund wurde ein neuer Direktor im Rikshospital eingestellt, ein Professor Dr. med. Thøger, er gehörte zu denen, die die Gerichtsmedizin als eigenes Fach als überflüssig ansahen, da es doch nur Wissen benutzte, das auch in den anderen Disziplinen gelehrt wurde. Was natürlich auf einem banalen Missverständnis beruhte, was die Zeit gezeigt hat, wenn es nicht nur der reine Neid war, und manchmal kann es scheinen, als wäre dieses niedere, primitive Gefühl, der Neid, Teil des Studienpensums. Er war kaum älter als ich, ich konnte mich noch aus der Studienzeit an ihn erinnern, ein Streber, und es gefiel mir nicht, einen Vorgesetzten zu haben, der fast im selben Alter war wie ich. Leider war er auch noch ein Tugendbold. Er mischte sich in die Frisuren der Krankenschwestern ein und erklärte, dass cutting und shingle am Rikshospital unerwünscht wären, der Scheitel sollte korrekt nach der Nase verlaufen. Ich hätte einwenden können, dass kurzes Haar an einem Krankenhaus von Vorteil war, bekam dazu aber nie die Gelegenheit. Ich entschied mich, mich auf zwei Gebiete zu spezialisieren, die in meinen Augen eng zusammenhängen: Untersuchungen, bei denen es um die Zurechnungsfähigkeit einer Person geht, also gerichtspsychiatrische Gutachten, und Selbstmorde. Ich hatte keine Lust, den Rest meiner Karriere beispielsweise mit Fällen wie dem des Streithammels zu verbringen, der bei einer Rangelei mit einem Kameraden auf der Karl Johan eine Regenschirmspitze in das eine Nasenloch gebohrt bekam, durch die basis cranii, hinein bis in die lateralen Ventrikel, er hatte leichtes Nasenbluten, aber der Streithammel konnte noch ins Grand gehen, sich ein Glas Bier bestellen, bezahlen und es austrinken, bevor er starb. Hätte es an dem Abend doch nicht geregnet. Ganz zu schweigen von Jens, dem Fuchs, der bei einem Treffen der Bauernjugend einen Messerstich ins Herz bekam, mit 800 Gramm Blut in der Perikardiumhöhle und 1200 Gramm Blut im linken Lungenflügel; trotzdem konnte er anschließend noch zwei Tanzsprünge präsentieren, weil er zeigen wollte, dass er ein echter norwegischer Kerl war, worauf er anschließend tot umfiel. Vielleicht war es aber auch so, wie ich mir jetzt denken kann, jetzt, wo ich mein ganzes Leben rückwärts betrachte, dass ich mich für diese Fachbereiche entschied, um nicht so viel mit Kindern zu tun zu haben. Ich ertrug das meiste und weigerte mich nie, eine Leiche zu obduzieren, aber mit Kindern war es am schlimmsten. Unzurechnungsfähig nach dem norwegischen Gesetz, § 44, und nicht schuldfähig ist derjenige, der zum Zeitpunkt der Tat geisteskrank oder ohnmächtig war. Dagegen führt eine mangelhafte Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, § 39, was auch senile oder alkoholbedingte Einschränkung mit einschließt, nicht zur Aufhebung der Schuldfähigkeit. Das hat natürlich keinerlei Einwirkung auf das Schicksal des Selbstmörders, ganz im Gegenteil, zeigt sich, dass Selbstmörder zum Zeitpunkt des Geschehens sehr bewusst und zielstrebig vorgehen, wie beispielsweise der genannte Kaufmann aus Kolbotn. Ich möchte aber bei der Gelegenheit daran erinnern, dass es jedem Arzt auferlegt ist, nicht nur in seinem eigenen Interesse, sondern im Interesse der Allgemeinheit, seine Schweigepflicht nur zu brechen, wenn es notwendig und erforderlich ist. Strenge Diskretion ist die vornehmste Pflicht eines Arztes. Deshalb will ich den Kaufmann hier liegen lassen. Von allgemeinem Interesse ist hingegen, dass die Jahreszeit eine gewisse Rolle spielt: Männer begehen meistens im Frühling Selbstmord, besonders im Monat
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