Die Uno
Nationen ausdrücklich nicht vorgesehen und eine entsprechende Chartaänderung ist äußerst unwahrscheinlich. Aber dass sich seit einigen Jahren ein Normenwandel vollzieht, dokumentiert die auf Initiative Kanadas eingerichtete Internationale Kommission zu Intervention und Staatensouveränität (ICISS). In ihrem Bericht vom Dezember 2001 wird «im Falle schwerwiegenden Schadens für eine Bevölkerung bei Unwillen oder Unvermögen eines Staates, hier Abhilfe zu schaffen», die Verpflichtung, Schutz zu gewähren, über das Gebot der Nichteinmischung gestellt. In einem solchen Fall müssten die Vereinten Nationen die Möglichkeit haben, vom Grundsatz der Nicht-Intervention abzuweichen und eine «Verantwortung zum Schutz» wahrzunehmen. Sollte sich diese Auffassung durchsetzen, dann würde das internationale Kooperationsrecht in eine neue Dimension vorstoßen:von der Verpflichtung zur Kooperation zwischen den Staaten zur Verpflichtung zur zwischenstaatlichen Kooperation zum Schutz der Bürger eines anderen Staates.
Je weniger es im Zeichen einer sich herausbildenden Weltgesellschaft heute angemessen erscheint, sich die Welt, in der die Vereinten Nationen ihrem Friedensauftrag nachkommen sollen, immer noch als das Staatensystem des 17. Jahrhunderts vorzustellen, desto mehr muss auch die Unantastbarkeit der souveränen Staatlichkeit als völkerrechtliches Grundprinzip ins Wanken geraten. Gleichwohl sollte diese zivilisatorische Errungenschaft, die die Staatenwelt immerhin aus ihrem anarchischen Naturzustand herausgeführt hat, nicht voreilig für obsolet erklärt werden. Die Pflicht zu humanitärer Intervention könnte sonst zu einem Freibrief werden, zu einer allzeit verfügbaren Formel zur Begründung der Verletzung der Souveränität eines anderen Staates. Bisher liegt es im Ermessen des Sicherheitsrats, eine humanitäre Katastrophe als Bedrohung der internationalen Sicherheit auszulegen und damit eine humanitär motivierte Intervention als legitim zu autorisieren. Solange es keine klar definierte Verpflichtung gibt, wird er dies aber nur dann tun, wenn jedes einzelne seiner ständigen Mitglieder das auch für politisch opportun hält. Von einem verlässlichen internationalen Schutz der von Völkermord und systematischen Menschenrechtsverletzungen betroffenen Zivilbevölkerungen kann folglich nicht die Rede sein.
Die sauberste Alternative zu diesem unbefriedigenden Zustand bestünde in einer Ergänzung der Charta. Mit der expliziten völkerrechtlichen Verpflichtung zur humanitären Intervention könnte möglicherweise ein verlässlicherer Schutzmechanismus geschaffen werden, der zugleich auch der fortgesetzten Zweckentfremdung und Abnutzung der «Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit» Einhalt gebieten würde, die längst in Gefahr ist, zu einer Beliebigkeitsformel zu degenerieren und damit ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen. Die Subsumierung von humanitären Katastrophen und schwersten Menschenrechtsverletzungen unter das Konzept der menschlichen Sicherheit würde es im Prinzip durchaus erlauben, auchexistenzielle Bedrohungen des Einzelnen als Sicherheitsprobleme zu definieren und damit der unmittelbaren Zuständigkeit des Sicherheitsrats zu übergeben. Die Durchführung humanitärer Interventionen würde, auf diese Weise formalisiert und legalisiert, aus dem Dunstkreis ihrer gegenwärtigen Beliebigkeit heraustreten, aber würde dies den Schutz der menschlichen Existenz auch wirklich verlässlicher machen? Eine Norm hat nur Gewicht, solange auch ihre Durchsetzung glaubhaft gewährleistet ist. Da die UNO über keine eigenen Interventionstruppen verfügt, blieben auch obligatorische humanitäre Interventionen immer noch auf die Bereitschaft derjenigen Mitgliedstaaten angewiesen, Truppen für humanitäre Interventionen zur Verfügung zu stellen, die über die dafür benötigten militärischen Kapazitäten verfügen. Vor diesem Hintergrund erscheint es zwar wünschbar und überfällig, dem Grundsatz der «Verpflichtung, Schutz zu gewähren», einen höheren Stellenwert einzuräumen, zu große Erwartungen in seine mehr als nur fallweise praktische Umsetzung sollten jedoch nicht gehegt werden, denn die Interventionsmöglichkeiten der Vereinten Nationen werden auch bei einer Erweiterung der legitimen Interventionsgründe in der Praxis an die Interessenübereinstimmung der größeren Militärmächte und deren Bereitschaft gebunden bleiben, ihre Machtmittel in ausreichendem Umfang zur Verfügung zu
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