Die Unseligen: Thriller (German Edition)
flüchtig den Mond, der reglose Himmelskörper löste in ihr ein Gefühl des Entsetzens aus, das sie sich nicht erklären konnte. Und so betrachtete sie, nackt inmitten ihres Zimmers stehend, die weiße Scheibe und lauschte dem Atem einer Welt, von der sie nicht mehr wusste, ob sie sie noch liebte.
Als sie die Tür zum Bad aufmachte, achtete sie weder auf den Geruch noch auf den dunklen Fingerabdruck auf dem Schalter. Die Neonröhre über dem Spiegel knisterte in dem Moment, wo ihre Füße in eine warme, klebrige Pfütze rutschten. Ihr Herz pochte. Als sie den ranzigen Geruch, der ihr in der Nase brannte, mit dem in Verbindung brachte, was sie sah, glaubte sie zu ersticken.
Medikamentenschachteln waren wutentbrannt aufgerissen und ihr Inhalt auf den Fliesen verstreut worden. Das Waschbecken und die Klosettschüssel quollen über von blutgetränktem Toilettenpapier. Nagelscheren und ihre Epilierpinzette waren in einen Plastikbecher eingetaucht. Über der Stange des Duschvorhangs baumelte ein blutverschmiertes Badehandtuch, und rote Rinnsale liefen über den Kunststoffvorhang und flossen zusammen zu einer Rinne, in der Megan watete.
Sie wollte einen Schrei ausstoßen, aber ihr versagte die Stimme. Instinktiv bedeckte sie ihre Brust und ihre Scham.
Es war nicht der Anblick des Blutes, der ihre Schläfen pochen ließ. Nein, das, was den Schweiß in ihrem Rücken perlen ließ, war die zusammengekauerte Gestalt, deren Schatten sie hinter dem Vorhang erblickte.
106
Der Metallfaden knisterte leise, und das warme Licht der Halogenröhre spiegelte sich in der roten Pfütze wider, die sich langsam auf den Fliesen ausbreitete. Stechmücken schwirrten um die Neonröhre, andere setzten sich auf ihre Haut. Verwirrt von der zusammengekauerten Silhouette hinter dem Vorhang, spürte Megan ihre Stiche nicht.
Ein Luftzug streichelte ihren nackten Körper.
Sie trat einen Schritt zurück, lehnte sich gegen die Wand, um nicht auszurutschen, und verharrte reglos. Der Schatten machte eine Bewegung in ihre Richtung. Sie hörte einen Atemzug, ein gedämpftes Rasseln, und sah, wie sich hinter dem Vorhang die Silhouette eines Menschen aufrichtete.
Sie stürzte in ihr Zimmer und knallte die Badezimmertür hinter sich zu. Der plötzliche Lichtwechsel verwirrte sie. Sie blinzelte, um ihre Kleidung zu erkennen, sah aber nur Schwarz auf Schwarz. Sie machte einen Schritt, stolperte.
Ihre Hände griffen in gähnende Leere.
Sie schlug mit der Schläfe auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kiefer und ihren Nacken. Außer Atem drehte sie sich in dem Moment um, in dem zwei Schattensäulen den Lichtstreifen unterbrachen, der unter dem Türflügel hindurchschien. Die Tür ging auf, und Megan brauchte nur ein paar Sekunden, um den Mann zu erkennen, der vor ihr stand.
»Ich brauche Ihre Hilfe … «, flüsterte er.
107
Henry Okah betrat, auf den Lauf seines Gewehrs wie auf eine Krücke gestützt, das Zimmer und schleppte sich zum Bett. Er hatte das linke Bein seiner Hose in Höhe der Leiste aufgeschnitten, und ein blutgetränktes Kopftuch war fest um seinen Schenkel gebunden. Er unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich auf die Matratze, wobei er die Waffe auf die junge Frau richtete.
»Zwingen Sie mich nicht dazu, zu wiederholen, was ich gesagt habe … «
Megan stand langsam auf, verdeckte mit dem Arm ihre Brust und blieb in der Mitte des Zimmers stehen.
»Ziehen Sie sich an!«, sagte Henry Okah, ohne sie anzusehen.
Er band das Tuch auf, das er um den Oberschenkel geschlungen hatte. Blut spritzte aus einer kleinen runden Wunde und lief seine Wade herunter. Er beugte sich vor, um die Wunde zu untersuchen; vorsichtig tastete er die Ränder ab. Rötlich-violette und grüne Streifen verzweigten sich um den Krater, und einige verliefen im Zickzack bis zum Knie. Um das Loch herum – dort, wo das Projektil die Haut versengt hatte – hatten sich kleine Blasen gebildet.
»Ist die Zimmertür abgeschlossen?«
»Ja«, antwortete Megan und streifte sich eine Jeans und ein T-Shirt über.
Die Zähne zusammenbeißend, packte Okah sein Bein mit beiden Händen und legte es aufs Bett.
»Sauerei!«, schimpfte er in dem Moment, in dem der Schmerz einen Muskelkrampf auslöste.
Der Krampf ließ mehr Blut aus der Wunde strömen, als das Tuch aufnehmen konnte. Der Oberschenkelmuskel begann, seltsam zu zucken, als ob der Muskel und die Bänder versuchten, sich vom Knochen loszureißen. Okah schwieg eine lange Minute mit halb
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