Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Betäubung kann ich nicht weitermachen«, sagte Megan.
Okah beugte den Kopf nach hinten und öffnete den Mund. Die Luft, die er einsog, brannte ihm in den Lungen, trotzdem fand er die Kraft zu murmeln: »Machen Sie es … «
Die Krankenschwester zog die Kugel langsam heraus, wobei sie das Blut, das aus dem Loch strömte, abwischte. Okah schrie in der Sekunde, in der das Projektil aus dem Fleisch herausgezogen wurde. Megan goss sofort Wasserstoffperoxid auf die Wunde. Dann legte sie Kompressen auf und umwickelte den Oberschenkelmuskel mit Heftpflaster, um die Blutung zu stillen.
»Wasser … «
Er trank den Becher, den ihm Megan hinhielt, in einem Zug aus. Die Augen auf die Decke geheftet, schwieg er etliche Minuten. Die junge Frau schob ein Kopfkissen unter seine Wade, um das Bein leicht erhöht zu halten.
Sie setzte sich auf die Ecke der Matratze, wischte sich den Schweiß ab, der ihr in den Augen brannte, und sprang dann unvermittelt auf, um ins Bad zu stürzen und sich zu übergeben.
109
»Zeigen Sie sie mir«, bat Okah kaum hörbar.
Auf die Ellbogen gestützt, richtete er sich auf, um die verschwommene Gestalt am anderen Ende des Zimmers anzusehen.
»Zeigen Sie mir die Kugel.«
Megan gelang es nicht, ihren Blick von der Eingangstür abzuwenden. Sie war nur zwei Meter weg, und diese Entfernung erschien ihr dennoch bald lächerlich, bald unüberwindlich. Sie wusste nicht, ob der Mann auf dem Bett die Zeit und die Kraft hätte, das Gewehr auf sie zu richten und zu schießen. Würde er nach dem, was sie für ihn getan hatte, zögern?
»Machen Sie keine Dummheiten!«, murmelte Henry Okah und zog den Kolben des Gewehrs zu sich.
Megan blieb stehen, ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb. Viel mehr als der Lauf des Gewehrs, der auf sie gerichtet war, erschreckte sie die Ruhe dieses Mannes. Als sie in seinem Oberschenkel herumgestochert hatte, hatte er nicht zu Gott gebetet, ja nicht einmal gefleht, der Schmerz möge aufhören. Er hatte die Schmerzen einfach stoisch ertragen und wie beim Niederschießen der tschadischen Krankenschwester keinerlei Regung gezeigt. Er strahlte eine Willenskraft, eine Entschlossenheit aus, die ihr noch bei niemandem begegnet waren.
Sie ging zum Bett, hob die Kugel auf und ließ sie in seinen Handteller fallen. Er betrachtete die zwölf Gramm Kupfer und Blei, erstaunt darüber, dass ein so kleines Objekt ein Leben derart grundlegend verändern konnte.
»Helfen Sie mir, aufzustehen.«
»Sie müssen sich ausruhen.«
Okah schüttelte den Kopf und setzte den Kolben seines Gewehrs auf den Boden.
»Keine Zeit … «
Sich mit beiden Händen am Lauf festklammernd, stürzte er neben dem Bett zu Boden.
Megan glaubte, ja hoffte inbrünstig, er würde in Ohnmacht fallen, aber Henry Okah hielt stand und richtete sich wieder auf, wobei er sich auf die Schulter der Krankenschwester stützte. Er humpelte zum Fenster, lehnte die Stirn an die kühle Scheibe und wartete, bis sein Blick die Finsternis durchdrang.
»Kennen Sie den Priester, der vor dem Angriff auf die Klinik geflohen ist?«
»Ja.«
»Woher kam er?«
»Es gibt eine katholische Missionsstation … nördlich des Sees …«
Okah schwieg, in die Betrachtung der Finsternis versunken, als verberge sich in diesem Gewirr von Schatten ein Rätsel, das er niemals ergründen würde.
Er war sich praktisch sicher, dass Yaru Aduasanbi Naïs diesem Priester anvertraut hatte. Was versprach er sich davon? Wollte er Naïs wirklich verschwinden lassen? Wollte er, dass sie fern der Welt aufwuchs?
Er schloss die Augen und massierte sich die Lider mit Daumen und Zeigefinger. Als er sie wieder öffnete, hob er die Pumpgun und richtete sie in Hüfthöhe auf die junge Frau.
Megan wich zurück, wobei sie gegen den offenen Koffer stieß, denselben Koffer, den sie beinahe genommen hätte, um weit weg von dieser Stadt und diesem Krankenhaus zu fliehen. Ihr Mund wurde trocken. Ihr dröhnte der Kopf.
»Ich bitte Sie, nein … «, stammelte sie.
Henry Okah lächelte. Die Angst – in all ihren Formen – bewegte die Welt, sie trieb die Menschheit um und stürzte sie in ihr Verderben.
Die Angst und nichts anderes.
110
»Mein Gott … was ist hier passiert?«
Der Arzt des Krankenhauses von Baganako stand in der Tür des Zimmers. Megans Sachen lagen verstreut um das Bett herum, aber am erschreckendsten waren die vielen Blutflecken auf der Matratze und dem Boden. Seinem Gedankengang folgend, jagte sein Kollege einen Schwarm Fliegen auf und betrachtete
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