Die Unseligen: Thriller (German Edition)
formen.
Ohne Okah hätte er niemals den Sieg ins Auge fassen können.
Ohne Okah würde er heute nicht sterben.
Die Erinnerungen an seine ersten Tage im Dschungel fielen ihm wieder ein, aber er erlebte sie nicht, sie zogen an ihm wie an einem unbeteiligten Beobachter vorüber. Er sah sich im Schlamm waten, bei prasselndem Regen Kisten mit Waffen tragen, und er glaubte sogar, die Feuchtigkeit dieser Nächte zu spüren.
Er flehte, man möge ihm den Gnadenstoß geben, als das Bild des familiären Glücks, vor dem er geflohen war, die Bilder von den Ufern des Niger verjagte. Seine Frau starrte ihn an, etwa zehn Meter von ihm entfernt, und ihre Finger strichen über die Haare ihres Sohnes und ihrer Tochter. Ihre Gesichter waren verschwommen, aber er war sich sicher, dass sie es waren. Schwarze Flecken überlagerten ihre Körper und füllten den Raum zwischen ihm und seiner Familie; als sie sich auflösten, waren seine Ehefrau und seine Kinder verschwunden. Es blieb nur ein kleines Mädchen mit merkwürdigen Hautritzungen am Bauch. Naïs lächelte, und ihre Augen funkelten spöttisch und grausam.
102
Umaru Atocha ging neben der Leiche in die Hocke und schloss ihr die Augen.
Yaru Aduasanbi hätte nicht so sterben sollen, dachte er. Nicht hier, nicht vor diesem Krankenhaus. Seine sterblichen Überreste hätten vom nigerianischen Volk getragen werden müssen, weitergereicht von Arm zu Arm. Der Weg zu seinem Grab hätte mit Tausenden von Blumen bestreut sein sollen.
Er sah zum Dach des Krankenhauses auf, wo er erwartete, Henry Okah zu erblicken. Aber er sah nur den weiten Himmel und den Mond, der den Einbruch der Dunkelheit ankündigte. Die streunenden Hunde von Baganako näherten sich mit erhobener Schnauze und folgten dem Blutgeruch.
Umaru stand auf und richtete seine Waffe auf ihre Schatten; diese einfache Geste hielt sie in respektvollem Abstand vom Tod. Er suchte ein Fenster nach dem anderen mit den Augen ab, denn er wusste, dass ihn Henry Okah irgendwo beobachtete, die Kimme seines Gewehrs zwischen seine – Umarus – Augen gerichtet. Der Albino spürte, dass die Anwesenheit seiner Söldner die Mordgelüste des ehemaligen MEND -Generals abkühlen würde. Falls Okah auf ihn schießen würde, würden die vier Männer nicht zögern, das Krankenhaus mit Kugeln zu durchsieben, es in Schutt und Asche zu legen.
Umaru breitete die Arme aus, um ihn zu provozieren.
»Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Henry!«, schrie er.
Der Wind trug das Echo seiner Stimme davon. Die Polizeisirenen kamen näher.
»Jetzt heißt es: du oder ich!«
Der rotbraune Widerschein der untergehenden Sonne in den Scheiben verdeckte die Gesichter dahinter, aber Umaru erahnte die verängstigten Gestalten, die beteten, er möge schnellstens verschwinden. Er zog sein T-Shirt aus, kniete sich nieder und verhüllte das Gesicht Yaru Aduasanbis. Er zog seine Maschinenpistole aus dem Holster und legte sie auf dessen linke Brustseite, auf das Herz. Anschließend legte er die Hände des Anführers der Revolution auf die Waffe.
»Ruhen Sie in Frieden, Herr General.«
Auf der Ladefläche des Pick-ups sitzend, sah Umaru Atocha die Sterne nicht, die nacheinander über dem See aufgingen. Auch nicht den Sternschnuppenschauer im Nordwesten, der für einen kurzen Moment das Firmament glutrot entflammte. Die katholische Missionsstation würde bald am Horizont auftauchen. Er würde endlich Naïs in seine Gewalt bringen. Es war nur noch eine Frage von Minuten.
Er betrachtete seine Männer. Söldner. Vorbestrafte. Verbrecher. Mörder.
Seine verdammten Seelen …
Sie brannten darauf, endlich Naïs aus Fleisch und Blut zu sehen. Umaru hatte ihnen so viel von diesem Kind und von dem gigantischen Lösegeld erzählt, das sie für es verlangen würden. Er hatte ihnen ihren zukünftigen Reichtum in den leuchtendsten Farben ausgemalt, und kraft dieser betörenden Vision ließen sie sich am Gängelband führen. Dabei hatte er jedoch sorgfältig darauf geachtet, ihnen nicht alles zu verraten. Hätte er ihnen das wirkliche Alter des Mädchens gesagt, dann hätten seine Männer es womöglich aus schlichtem Aberglauben umgebracht, so seine Befürchtung. Ihm selbst fiel es schwer, an dieses Wunder der Evolution zu glauben. Um sich selbst davon zu überzeugen, las er sich hin und wieder noch einmal Artikel über das amerikanische Mädchen durch, das an demselben Syndrom litt.
Die Kugel
»Die Barrikaden sind die Stimmen derjenigen,
die nicht gehört wurden.«
Martin
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