Die Unseligen: Thriller (German Edition)
»Die Menschen und meine Kollegen mögen mich hochachten, wenn ich meine Versprechen halte; möge ich entehrt und verachtet werden, wenn ich sie breche.«
163
Vor dem großen Fenster des Flughafens kreuzte Jacques die Hände hinter dem Rücken und betrachtete die Lichtpunkte, die die Landebahnen säumten. Es war tiefschwarze Nacht, und die Lichter der Städte in der Ferne färbten den Himmel orange und rötlich-violett. Hagel peitschte die Pilotenkanzeln der Flugzeuge, und auf dem Metall glitzerten tausend Lichtfunken.
Er lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Vor einem Monat hatte er an derselben Stelle gestanden. Und er hatte die Stirn in der gleichen Weise an die Scheibe gelehnt, als der Sarg von Benjamin Dufrais auf einen Containertransporter geschoben und zum Leichenwagen gefahren worden war.
Er hatte befürchtet, der Fahrer würde die Blechkiste umkippen, und der Leichnam Benjamins würde zwischen das Gepäck fallen. Aber nichts dergleichen war passiert. Der Fahrer des Containertransporters hatte geschickt manövriert und sich mit dem Geisterbahnwagen in den dichten Verkehr am Rand der Rollbahn eingefädelt. Eltern hatten ihre Kinder von dem Anblick abgelenkt, als sie erkannt hatten, dass die große Kiste auf der Ladefläche kein Koffer war. Jacques hatte ein paar Worte an sie richten, ihnen mitteilen wollen, dass die Leiche in dem Sarg die eines Freundes sei, aber er hatte lieber geschwiegen und still geweint.
Er trocknete sich die Augen und sah das Spiegelbild von Megan dicht neben seinem. Er drehte sich um und wollte die junge Frau anlächeln, aber er war so verwirrt und niedergeschlagen, dass er spürte, wie ihn alle Kraft verließ. Megan fasste ihn am Arm und verhinderte so, dass er zusammenbrach.
»Mir geht es gut«, murmelte er, um sie zu beruhigen, »mir geht es gut.«
»Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Er ließ sich zu den Sitzreihen führen. Megan starrte ihn an und wunderte sich, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Er war plötzlich gealtert, als ob die Gegenwart Benjamins an seiner Seite ihn bislang am Leben gehalten hatte. Der sturmgestählte, selbstbewusste Missionschef existierte nicht mehr.
»Um wie viel Uhr geht Ihr Flugzeug?«, fragte er.
»Das Boarding beginnt in zehn Minuten. Ich werde heute Abend in Kenia eintreffen.«
Megan ließ ihren Blick über den Pariser Flughafen gleiten, denselben Flughafen, an dem sie einst voll naiver Illusionen von Bord des Flugzeugs aus Chicago gegangen war.
»Wissen Sie … «, fuhr sie fort. »Ich muss immer wieder an den Moment denken, wo ich dieses Krankenhaus verlassen habe. Ich weiß jetzt, dass ich an Benjamin vorbeigegangen bin, und doch … « Sie suchte nach Worten. »… kann ich mich einfach nicht daran erinnern. Also versuche ich es immer wieder, aber nie sehe ich sein Gesicht.«
»Ich glaube nicht, dass er gewollt hätte, dass Sie ihn so in Erinnerung behalten.«
Megan sah Jacques unverwandt in die Augen.
»Warum hat er das getan?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Weil er Sie geliebt hat? Weil er seinem Leben einen Sinn geben wollte? Benjamin und ich haben hier auf der Erde genug Schweinereien gesehen, um zu wissen, dass man das Wesentliche nicht ignorieren darf. Und für ihn waren Sie das Wesentliche.«
»Mir wäre es lieber gewesen, wir wären uns nicht begegnet.«
»Sagen Sie das nicht.«
Er nahm ihre Hand, und Megan war erstaunt, wie kalt sie war. Der Aufruf zum Boarding übertönte seine Worte. Megan schloss ihn in die Arme und stand auf.
Draußen hagelte es nicht mehr. Die dunkle Silhouette eines Flugzeugs rollte langsam auf eine Piste, Kinder liefen lachend zwischen den Sitzreihen hindurch. Die Welt war die gleiche wie gestern, die gleiche wie morgen.
164
Henry Okah stieg aus dem Fahrzeug und öffnete den Kofferraum. Die drei Wasserstoffflaschen und die Benzinkanister machten den Wagen schwer, aber er konnte noch fahren. Er betrachtete die Sprengladung im Kofferraum, dann die Männer der MEND , die geschäftig hin und her eilten und letzte Vorbereitungen für die Abfahrt trafen.
In der Ferne erklangen Freudenschreie und Musik aus den nördlichen Vororten von Abuja und verstärkten sich in Richtung Stadtzentrum. Von dem Hügel aus, auf dem sie sich befanden, sah Henry Okah jenseits der gigantischen Müllhalden die Menschenmenge und Tausende Fähnchen, die im Wind flatterten. Er hörte den fernen Tumult und den Klang der Fanfaren.
An diesem Anfang des Monats Oktober feierte Nigeria den 50. Jahrestag seiner
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