Die Unseligen: Thriller (German Edition)
war massig, hatte breite Schultern, und sein Oberkörper trat unter einem allzu engen T-Shirt hervor. In Höhe seines linken Oberarmmuskels trug er ein aufgenähtes Abzeichen mit der Aufschrift: MEND » For our freedom and yours« .
»Auf die Knie! Alle!«
Benjamin und Jacques legten die Hände auf den Kopf und knieten sich nieder. Sie befanden sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation, und beide wussten genau, wie sie sich zu verhalten hatten. Benjamin hatte den Blick auf den Linoleumboden geheftet, als ein Paar Stiefel, das mit getrocknetem Schlamm überzogen war, in sein Gesichtsfeld kam.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte der Mann, während er den Tagelmust aufband, der die untere Hälfte seines Gesichts verdeckte.
»Wir arbeiten für eine Hilfsorganisation … «
»Welche?«, unterbrach er ihn.
»Médecins Sans Frontières.«
»Steh auf.«
Benjamin gehorchte. Unter dem grauen Licht der Neonröhren glänzte Schweiß auf dem Schädel von Henry Okah, einem der Generale der MEND , dessen Raubkatzengesicht die Titelseiten der Zeitungen zierte.
»Was haben Weiße hier zu suchen?«
»Tu ihm nicht weh!«
Pille stand auf, mit geballten Fäusten, und seine Augen funkelten herausfordernd.
»Sieh an, du scheinst einen Bodyguard zu haben, Onkel Doktor.«
Benjamin versuchte, dem Kind diskret zu bedeuten, sich wieder hinzusetzen, aber Pille schien entschlossen zu sein, es mit dem Mann aufzunehmen. Der Chef der MEND trat einen Schritt vor.
»Warum glaubst du, dass ich ihm wehtun werde?«
»Weil du eine Pistole hast.«
»Die da?« Henry Okah zog eine Augenbraue hoch und berührte die Waffe, die in seinem Gürtel steckte. »Das ist eine Beretta 92. Das ist die Pistole der amerikanischen Soldaten.«
Er riss den Druckknopf des Holsters auf und umfasste den Griff der Automatik. Benjamin sammelte seine Kräfte, um einzugreifen.
»Da, nimm!«
Okah hielt Pille die Waffe hin. Der kleine Junge machte eine ablehnende Handbewegung, aber das silberne Funkeln der Beretta übte bereits seine eigenartige Faszination auf ihn aus. Er hob den Arm und streichelte die Spitze des Pistolenlaufs.
»Aber vorher versprichst du mir etwas … « Okah zog die Waffe plötzlich von dem Kind weg und wandte sich mit sanfter Stimme an ihn. »Wenn du groß bist, besuchst du mich, und ich werde dir zeigen, wie man sie bedient. Und, vor allem, gegen wen du sie einsetzen musst. Dann wirst du verstehen, dass nicht wir die Bösen sind.«
Er legte die Pistole in die Hand von Pille. Der Junge war so überrascht von ihrem Gewicht, dass er sie beinahe fallen gelassen hätte. Er betrachtete die Beretta voller Entzücken und drückte sie gegen die Brust, als hätte er das schönste Spielzeug bekommen, von dem ein Junge seines Alters träumen kann. Henry Okah lächelte und wandte sich wieder den beiden Ärzten zu.
»Ich frage Sie noch einmal: Was machen Sie hier?«
»Wir sind hier, um Statistiken zu erstellen, herauszufinden, wie viele unterernährte Kinder in der Region leben.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Der … der Direktor des Waisenhauses wollte nicht, dass wir bleiben … «, Benjamin räusperte sich, »… um die Kinder zu schützen.«
»Sie zu schützen?« Henry Okah zog ein verächtliches Gesicht. »Dieser Fettwanst war nichts weiter als ein Regierungsbeamter. Und glauben Sie mir, diese Leute hier haben nichts mit den Kindern am Hut, sonst würden sie nicht diese Schiebereien machen.«
Okah musterte die beiden Mediziner einige Sekunden lang. Er schnaubte und wandte sich seinen Männern zu.
»Holt sie. Am Ende des Gangs, dritte Tür links.«
Das war das Zimmer des Mädchens, bei dem er gerade gewesen war, dachte Benjamin.
»Du und dein Kumpel, ihr kommt mit uns«, sagte er, packte Jacques unter der Achsel und zwang ihn aufzustehen. »Nichts Schöneres als ein Spaziergang bei Mondschein, oder?«
15
Benjamin wurde in einen Jeep geschubst, Jacques in ein anderes Fahrzeug gebracht, und Naïs, die, eingewickelt in eine Decke, von einem der MEND -Rebellen getragen wurde, wurde auf den Rücksitz eines sehr großen Pick-ups gelegt. Henry Okah, der sichtlich zufrieden darüber war, dass er die Entführung des Mädchens erfolgreich durchgezogen hatte, setzte sich neben Benjamin. Er klopfte auf die Schulter des Mannes links neben dem Fahrer.
»Wir haben sie.«
»Gut«, antwortete der Mann.
Der Fahrer drückte das Gaspedal durch, und der Jeep brauste in die Nacht davon.
»Und er? Wer ist das?«, fragte der Mann, ohne sich
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