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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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bei ihm eine feste Überzeugung herausgebildet: Unabhängig von dem Schweregrad der Verletzung musste man ein Vertrauensverhältnis zu jedem Patienten aufbauen, wenn man eine Chance haben wollte, ihn angemessen zu versorgen. Ein widerspenstiger, verängstigter Kranker verschwendete zu viel Energie darauf, die Angst vor dem Arzt zu bekämpfen, anstatt sie darauf zu konzentrieren, seine Lebenskräfte zu stärken.
    »Kesiah ist Yoruba, nicht?«
    »Es bedeutet ›Schatz‹«, brachte sie mit Mühe hervor.
    »Nun, Schatz, ich muss diese Schnittwunden säubern, damit sie dir später nicht noch mehr wehtun. Darf ich?«
    Sie nickte, ein wenig beruhigt von der sanften Stimme Benjamins.
    Behutsam betupfte er die Hautabschürfungen und Wunden mit der Kompresse, entfernte die Splitter und die Dreckklümpchen. Um die Augen bildete sich eine kleine Blutung. Mit den Fingerspitzen drückte Benjamin auf die Backenknochen und ertastete eine Spitze, etwas Abstehendes, was nicht da hingehörte unter die Haut der Wange. Als er etwas stärker auf den Knochen drückte, stöhnte Kesiah und wurde kreidebleich. Unter der Kuppe seines Zeigefingers spürte er deutlich, dass ein Stück vom Knochen abgesplittert war. Er griff nach einer Spritze und stach in den linken Nasenflügel und ihre hübsch geschwungene Lippe. Zwar waren die meisten einheimischen Pflegekräfte guten Willens, aber sie hatten nur eine oberflächliche medizinische Ausbildung erhalten, eher eine Art Erste-Hilfe-Kurs als ein Studium. Benjamin schrieb daher so leserlich, wie er konnte:
    »Beim Abtasten: knochige Kerbe in Höhe des Jochbeins, verminderte Empfindlichkeit des Nasenflügels und der Oberlippe infolge einer Quetschung des Infraorbitalnervs. Kein Emphysem bei der Untersuchung. Fazit: Bruch des Jochbeins, ohne Eingriff Risiko von Komplikationen.«
    Ohne Röntgenbild konnte er nichts Weiteres sagen. Das digitale Röntgengerät war seit fünf Tagen defekt. Er sterilisierte die schmerzunempfindlichen Zonen und nähte die tiefsten Wunden, wobei er sorgfältig den Linien folgte, die den Körper des Mädchens kartografierten. Dabei bemühte er sich, den Moment hinauszuschieben, wo er das Thema anschneiden musste, das ihm Kopfzerbrechen machte.
    Der Arzt rollte mit seinem Stuhl zu einem Schrank und nahm einen kleinen Koffer heraus, ein Notfallset für gynäkologische Untersuchungen. Er legte die sterilisierten Instrumente auf einen Rolltisch und zeigte sie nacheinander seiner Patientin.
    »Siehst du dieses Gerät, das einem Entenschnabel gleicht? Das nennt man Spekulum. Damit kann man feststellen, ob du innerliche Verletzungen hast. Bist du einverstanden?«
    »Tut das weh?«
    »Nein, aber es ist nicht sonderlich angenehm. Ich werde dich bitten, dein Gesäß vorzuschieben und die Beine anzuwinkeln.«
    Die junge Frau kam der Bitte ohne Widerstreben nach. Der Arzt führte das Spekulum zwischen ihren Schenkeln ein und entdeckte lediglich streifenförmige oberflächliche Verletzungen an den Vaginalwänden.
    »Eine letzte Frage: Hat dieser Kunde, der dich geschlagen hat, ein Kondom benutzt?«
    Sie hob den Kopf und drückte die Schenkel zusammen.
    »Das ist sehr wichtig, Kesiah.«
    Sie schüttelte den Kopf. Genau das hatte er befürchtet. Er zögerte, ehe er fortfuhr, nach Worten ringend.
    »Sie sagen mir nicht alles, Doc, oder?«
    »Du musst dich ausruhen«, sagte er mit einem offenen Blick in ihre Augen. »Ich werde dir mehrere Medikamente verschreiben. Du gibst diesen Zettel der Krankenschwester. Sie wird dir die Medikamente besorgen, einverstanden?« Kurzes Nicken. Benjamin hatte den Eindruck, dass sie zu ergründen suchte, worauf er hinauswollte.
    »Du musst zunächst einmal unbedingt die Pille danach einnehmen. Du bekommst vielleicht Kopf- oder Bauchweh und hast kleinere Blutungen.«
    Er klammerte sich an sein ärztliches Know-how und näherte sich ihr.
    »Ich werde dir auch sogenannte antiretrovirale Medikamente verschreiben. Das ist eine vorbeugende Behandlung. In ein paar Tagen wird dir eine Krankenschwester Blut abnehmen, damit wir wissen, ob du diese Medikamente weiterhin nehmen musst. Wenn der Test positiv ausfällt … «
    »Dann heißt das, dass ich Aids habe, nicht wahr?«, unterbrach sie ihn schluchzend.
    »Tut … tut mir leid, Kesiah.«
    Eine lebende Tote. Eine von mehr als zehn Millionen HIV -infizierten jungen Afrikanern. Er schrieb eine Reihe von Antibiotika auf das Rezept und öffnete eine Schachtel mit schmerzstillenden Tabletten. Er gab ihr zwei Tamadol und

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