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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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versuchte, sie anzulächeln, aber sein Gesicht verzerrte sich.
    Er nahm sich vor, die Psychologin des Lagers zu bitten, das Mädchen so schnell wie möglich an seinem Bett zu besuchen. Ihre Aufgabe wäre es, ihr Trost zuzusprechen. Das war das einzige Rezept, das er nicht unterschreiben konnte. Er hatte im Übrigen weder die Lust noch die Kraft dazu. Er warf die Handschuhe in den Mülleimer und zog den Vorhang auf.

50
    Die Flügel des Ventilators schafften es nur, die feuchte Suppe und die in der Luft schwebenden Staubteilchen durcheinanderzuwirbeln. Das Büro des Missionsleiters von Médecins Sans Frontières war so eng wie die Kajüte eines Frachters. Die Wände hingen voller Landkarten, Statistiken, Terminkalender und Diagramme, die den Mauersalpeter und alte Geschosssplitter aus dem letzten Jahr verdeckten.
    »Kaffee?«, fragte Jacques, ohne abzuwarten, bis Megan sich hingesetzt hatte.
    »Ist er gut?«
    »Scheußlich. Er jagt Ihnen Magenkrämpfe ein, die Sie den ganzen Tag wachhalten werden.«
    Jacques stand von seinem Schreibtisch auf und goss heißes Wasser in zwei Tassen mit löslichem Kaffee. Megan nahm einen Schluck und verkrampfte sich, als sie das Gebräu hinunterstürzte.
    »Sie haben nicht gelogen«, sagte sie, als sie die Tasse wegstellte.
    »Das ist einer meiner Vorzüge: Ich kann nicht lügen«, sagte er lächelnd. »Wie lange bleiben Sie?«
    »Ich fahre in zwei Tagen zum Tschadsee. Ich soll im Lauf des Abends das Krankenhaus von Baganako erreichen.«
    »Wir haben ein Platzproblem. Wir haben kein freies Zimmer, in dem wir Sie heute Abend unterbringen können. Das bedeutet, dass Sie in der Krankenstation schlafen müssen … «
    »Kein Problem. Ich bin das gewohnt.«
    Jacques Rougée riss ein Zündholz an und führte es an seine Zigarette, ehe er sich anders besann und es in den Aschenbecher warf, den sein Sohn modelliert hatte.
    »Ich versuche aufzuhören«, hob er an. »Mein Sohn hat mich darum gebeten … genauer gesagt seine Mutter, weil er noch ein wenig zu jung ist, um ganz allein daran gedacht zu haben … «
    Er nahm das Objekt aus Salzteig in die Hand und betrachtete es, als hätte er einen großen Kieselstein gefunden, in dem ein Goldklumpen versteckt ist.
    »Ich habe ihm mein Pfadfinder-Ehrenwort gegeben, dass ich mich anstrengen würde, aber wenn man hier nicht irgendetwas hat, woran man sich festhalten kann … «
    »Das habe ich gehört.«
    »Bitte verzeihen Sie«, sagte der Einsatzleiter, indem er den Aschenbecher genau an die Stelle zurückstellte, an der er gestanden hatte. »Ich hab das Gefühl, wie einer dieser Drill Sergeants zu sprechen, wissen Sie, die, die man in Kinofilmen sieht und die den Rekruten eine Moralpredigt halten, ehe sie an die Front geschickt werden.«
    »Es hat ein bisschen was davon«, räumte Megan lächelnd ein.
    Der MSF -Einsatzleiter begleitete sie zur Tür. Im Gang schlief der Fahrer, der sich auf einen Stuhl gelümmelt hatte, mit dem Kopf ganz nahe am Ventilator. Krankenpfleger trugen Kisten mit Medikamenten, die sie am Eingang abstellten.
    »Ich kann Ihnen mein Büro überlassen, falls Sie sich ausruhen wollen … «
    »Geht schon, die Fahrt war für mich nicht so ermüdend wie für ihn«, log sie.
    »Es ist Zeit für meine Visite, begleiten Sie mich?« Ein spöttisches Lächeln trat auf seine Lippen. »Das wird Ihnen einen Vorgeschmack auf das geben, was Sie erwartet.«

51
    Der Schock war heftig, viel stärker, als sie es sich vorgestellt hatte. Und während der ersten zehn Minuten fragte sich Megan, ob es nicht der größte Fehler ihres Lebens gewesen war, nach Afrika zu kommen.
    Als sie die Kinderstation betrat, schien es ihr, als wäre sie hier fehl am Platz. Sie fühlte sich sofort hilflos und inkompetent, zu schwach, um diese Prüfung zu bestehen. Die vier wackligen Zwischenwände, die das Dach aus Metallschrott mehr schlecht als recht trugen, begrenzten einen Raum, der etwa dreißig Betten und zwanzig Matratzen beherbergte. Drei Krankenschwestern waren dort zugange und versorgten kleine Kinder, die auf den Matratzen lagen. Wobei »Kinder« eigentlich ein unzutreffendes, beschönigendes Wort für diese hüstelnden kleinen Skelette mit fieberglänzenden Augen war, die wie in einem Sammelgrab nebeneinanderlagen. Knochen und etwas verdorrtes Fleisch, fast Biltong – Trockenfleisch – , so gegerbt war die Haut von Wassermangel und Wüstenhitze. Der Hunger hatte ihre Stirn faltig gemacht und einen regelrechten Krater in Höhe des Brustbeins gegraben.

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