Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Écorché-Figuren. Wandelnde anatomische Bildtafeln.
Sie hatten ihre Blicke auf Megan geheftet, beobachteten ganz genau ihre Reaktionen, als wüssten sie um ihr abstoßendes Aussehen, um die Traurigkeit, die sie einflößten. Die Krankenschwester bot dieser Armee kleiner Phantome, die bereits fast aus der Welt der Lebenden gelöscht waren, die Stirn. Sie hielt ihren Blicken stand und wurde nicht schwach. Nie hatte sie einen greifbareren Schrecken, eine himmelschreiendere Ungerechtigkeit gesehen.
Sie hatte Verärgerung und auch Zorn gespürt, als sie über dem Mäuerchen des Friedhofs, auf dem ihre Tochter beerdigt worden war, auf einem Poster die Schwarz-weiß-Aufnahme eines kleinen afrikanischen Kindes gesehen hatte, das in den Armen seiner Mutter gestorben war. Sie erinnerte sich an die kalte Wut, die sie bei dem Gedanken überkommen hatte, dass die Einwohner dieser Stadt, ja die ganze Welt, Zeugen des Leidens dieser Frau gewesen waren, während niemand etwas von ihrem Kummer mitbekam.
Aber in diesem engen Raum starrten sie keine zweidimensionalen Fotos an; diese ausgemergelten Gestalten erwarteten kein Mitleid; sie begnügten sich damit, einfach da zu sein, gleich weit vom Leben und vom Tod entfernt, so zierlich, dass Megan befürchtete, schon ein Luftzug könne sie zu Staub zerfallen lassen und sie in die Sandwüste, die sich am Horizont abzeichnete, fortwehen.
»Megan? Alles in Ordnung?«
Während sie mit einer Hand das Jo-Jo in ihrer Hosentasche umklammerte, nickte sie, fühlte sich aber noch zu schwach, um zu sprechen. Jacques ging langsam durch die Reihen.
»Nach Auskunft des Roten Kreuzes sind diese Kinder mit ihren Eltern aus dem Niger geflohen«, sagte er. »Diese Familien wurden von Fulbe aus der Region Tahoua verjagt. Sie haben nördlich von Sokoto die Grenze nach Nigeria überquert und sind anschließend entlang der Grenze bis nach Nguru gezogen. Dort hat das Rote Kreuz sie aufgegabelt.« Er hielt inne. »Wissen Sie, als ich zum ersten Mal … «, hob er an, während er versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Als ich zum ersten Mal eines dieser Kinder im Fernsehen sah, hielt ich es für ein Kinomonster, für einen Alien. Ich war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, und dieses Kind war gut fünf Jahre jünger, aber es wirkte auf eigenartige Weise älter, als hätte es schon ein ganzes Leben hinter sich … Am Tag nach der Ausstrahlung hat unsere Lehrerin eine große Reissammlung organisiert, um diesen Kindern Reis zu schicken. Ich habe sechs Kilo in die Schule mitgenommen, so viel, wie ich tragen konnte, weil ich wollte, dass sich sein Aussehen verändert, verstehen Sie? Ich wollte, dass es wieder ein Mensch wird … «
Er wandte seinen Blick von den Schatten ab, die auf den Matratzen lagen, und richtete ihn auf einen fernen Ort, den nur er sehen konnte.
»Erst als ich für Médecins Sans Frontières zu arbeiten begann, wurde mir klar, dass sie nie genug Wasser gehabt haben, um den gespendeten Reis zuzubereiten … «
»Nicht genug Wasser«, wiederholte er, ohne etwas hinzuzufügen, und überließ es Megan, die Moral, die man dieser Anekdote entnehmen konnte, selbst zu interpretieren.
Irgendetwas zog Jacques’ Blick auf sich – eine junge Frau, deren Gesicht von Blutergüssen ganz blau war und die neben einem Baby saß. Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm ein Gespenst begegnet, und ging weiter. Aber er machte nur ein paar Schritte, ehe er stehen blieb.
52
Benjamin hatte in weniger als einer halben Stunde vier Patienten untersucht. Ein Arbeitsrhythmus, den er die folgenden zwölf Stunden durchhalten musste. Ein zu den Mambila gehörendes Paar aus Kamerun litt an Dehydrierung, der Knöchel eines Jugendlichen zeigte erste Anzeichen von Wundbrand, und ein dreizehnjähriges Mädchen wies alle Symptome einer extrapulmonalen Tuberkulose auf.
Benjamin wartete, bis seine letzte Patientin das Behandlungszimmer verlassen hatte, ehe er eine kleine Phiole aus Rauchglas aus der Tasche zog. Er nahm das Löffelchen aus Blech in die Hand, gab ein bisschen weißes Pulver darauf und hielt sich das linke Nasenloch zu. Er wiederholte die Geste. Das Kokain verbrannte ihm die Nasennebenhöhlen, ohne ihm die geringste Linderung zu verschaffen. Die Euphorie, die ihn überkam, dauerte nur eine Minute, vielleicht weniger. Er schloss die Augen in der Hoffnung, die Wirkung des Stoffs würde länger anhalten. Aber es geschah nichts.
»Doktor?«
Eine Krankenschwester steckte den Kopf durch die Tür des
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