Die Unseligen: Thriller (German Edition)
»Such diese Frau, das ist alles, worum ich dich bitte.«
Er trat aus der Krankenstation ins Freie und zündete sich hektisch eine Zigarette an. Am Horizont hatten die glühend heißen Winde des Sahel begonnen, über die Wüstenebenen zu wehen und riesige Säulen Staub und dürres Gras aufzuwirbeln. Eine Gruppe von Frauen hängte Tücher auf Ästen auf, die in den Boden gerammt worden waren, und schuf etwas Schatten, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen.
Sobald der Schweiß über seinen Hals und seine Schläfen perlte, stürzten sich Dutzende von Fliegen auf Benjamin und umschwirrten ihn. Er ließ sie über seine Haut krabbeln. Es war zwecklos, sie zu verjagen.
Er begriff nicht recht, warum der Anblick dieses Fotos ihn derart verwirrt hatte. Er brachte es unwillkürlich mit der Gestalt in Verbindung, die er in der Nähe von Pater David gesehen hatte. Er ärgerte sich über sich selbst. Er verlor die Kontrolle über seine Gedanken.
Nach dem, was in den Zeitungen stand, versteckte sich Yaru Aduasanbi im Dschungel Hunderte Kilometer entfernt. Was sollte er hier tun? In einem Lager, das von der nigerianischen Armee überwacht wurde? Absurd.
Über die Meldungen der französischen Presseagentur AFP hatte er den Schlag gegen die MEND und die Flucht von Henry Okah bis zu seiner Festnahme in Angola aufmerksam verfolgt. Auch Umaru Atocha war von den Behörden verhaftet worden. Nur Aduasanbi war dem Netz entgangen. Journalisten behaupteten, er sei, lange bevor die Polizei die Gruppe zerschlagen habe, als Befehlshaber kaltgestellt worden. Diesen Quellen zufolge soll Henry Okah ihn für das Blutbad in der »Nacht der Macheten« verantwortlich gemacht und wahrscheinlich seine Ermordung in Auftrag gegeben haben. Die Polizei hatte diese Gerüchte dementiert und Zeugen dazu aufgerufen, sich zu melden. Nirgends war Naïs erwähnt worden.
Die beißende Hitze zwang ihn dazu, wieder hineinzugehen. Aber er machte nur ein paar Schritte, ehe er stehen blieb. Eine ungewöhnliche Stille herrschte in den Räumlichkeiten von MSF . Er bemerkte, dass seine Kollegen um ihn herum erstarrt waren. Ihre Blicke waren auf den Gang gerichtet, der zum Ruheraum führte.
»Was ist los?«, flüsterte er.
Ein Krankenpfleger bedeutete ihm zu schweigen. Er hatte noch den Finger auf seinen Lippen, als das Geschrei wieder einsetzte. Benjamin reagierte als Erster. Er ging in den Flur hinein, gefolgt von zwei Notärzten. Sie waren weniger als drei Meter von der Tür entfernt, als diese jäh aufsprang.
Er blieb stehen, als er eine Gestalt, deren Gesicht hinter einem Mundschutz verborgen war, aus dem Ruheraum herauskommen sah. Der Mann zeigte mit einem Skalpell in ihre Richtung und zwang sie dazu zurückzuweichen. Die Gestalt kehrte in das Zimmer zurück und zerrte eine junge Frau am Handgelenk heraus. Die Spitze des Skalpells an ihre Kehle drückend, zwang er sie, voranzugehen.
»Aus dem Weg!«, befahl Benjamin, bevor er die Krankenschwestern zurückstieß, die sich neugierig vordrängten.
Der Mann ging vorsichtig durch den Gang, die Geisel gegen seine Brust gedrückt, den Arm um ihre Kehle. Das weiße Licht der Neonröhren im Ruheraum beleuchtete sie von hinten, und ihre Schatten wurden auf dem Boden immer länger, je näher sie dem Ausgang kamen.
Benjamin fing den Blick der jungen Frau auf, als sie an ihm vorbeigingen, und erkannte Kesiah. Er bemerkte Blut auf ihrer Kleidung und Blutspuren hinter ihr. Als der Mann die Tür öffnete, flutete gleißendes Licht in den Raum, und eine Hitzewelle schlug ins Innere der Krankenstation. Die Tür schloss sich hinter ihnen.
Benjamin blinzelte, um sich erneut an das Halbdunkel zu gewöhnen. In diesem Moment erblickte er den Körper am Ende des Gangs. Im Türrahmen badeten die Füße eines Mannes in einer dunklen Lache.
55
Das Mädchen im Bett starrte die Krankenschwester und den Arzt an, dann wandte es seine Aufmerksamkeit einem anderen kleinen Mädchen zu, das mit dem Zipfel eines Stofffetzens spielte.
»Kennen Sie dieses Kind?«, fragte Megan.
»Ich glaube schon«, antwortete Jacques. »Aber das ist unmöglich, es ist kaum gewachsen.«
»Es leidet an Unterernährung, das könnte erklären, weshalb es sich kaum verändert hat.«
Megan strich über die rituellen Ziernarben um den Nabel, um zu überprüfen, ob sich die geheimnisvollen Symbole, die in die Haut eingeritzt worden waren, infiziert hatten. Sie überflog die Aufnahmeakte.
»Aurora.«
»Nein, sie heißt Naïs.«
Als das Mädchen seinen
Weitere Kostenlose Bücher