Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Vornamen hörte, wandte es Jacques den Kopf zu. Der Arzt nahm zärtlich seine Hand.
»Was machst du hier, kleiner Engel?«
Naïs stieß nur ein Brabbeln aus und drückte Jacques’ Finger.
»Wer hat sie hierhergebracht?«, rief er über die Schulter.
Ein junger Arzt hob die Hand.
»Ich. Das Mädchen und sein Vater sind mit der Gruppe der Flüchtlinge angekommen, die das Rote Kreuz an der Grenze aufgelesen hat.«
»Sein Vater?«
»Ja, er hat das Anmeldeformular ausgefüllt.«
Jacques überlegte, was das zu bedeuten hatte.
»Dieses Kind wurde entführt. Wir müssen sofort die Polizei verständigen.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte eine Pflegerin.
»Wenn Sie Doktor Dufrais sehen, sagen Sie ihm, er soll sofort zu mir kommen.« Er wandte sich dem jungen Arzt zu. »Sind dir irgendwelche merkwürdigen Symptome an ihr aufgefallen, seitdem sie hier ist?«
»Nein, sie litt an Oligurie und Dehydrierung. Wir verabreichen ihr zur Vorbeugung Plumpy’Nut.«
»Sonst nichts?«
»Nein. Ehrlich gesagt, andere Kinder waren schlechter dran als sie. Wieso?«
Jacques behielt das, was er über Naïs wusste, lieber für sich. Jetzt, wo er sie in aller Ruhe beobachten konnte, musste er einfach nach einem sichtbaren Symptom ihrer Krankheit suchen. Er erinnerte sich an die Worte Yaru Aduasanbis und an den irrsinnigen Preis, zu dem dieser das Mädchen verkaufen wollte.
Selbst nach seiner Rückkehr nach Paris hatte er nicht aufgehört, daran zu denken. Er hatte zahlreiche medizinische Fachzeitschriften durchstöbert, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, einer Spur, die das aberwitzige Interesse an Naïs erklären könnte. Er hatte geglaubt, sich der Wahrheit zu nähern, als er einen Artikel über das Gen Apobec3 gelesen hatte. Nach den Forschungen der Abteilung für Immunologie des Gladstone Institute produzierte dieses Gen Antikörper, die in der Lage sind, Retroviren zu bekämpfen. Die Wissenschaftler hatten bereits nachgewiesen, dass zwei Prozent der Europäer aufgrund einer Mutation im Gen CCR 5 gegen HIV -1 immun sind. Seines Wissens war keine dieser Genmutationen in Afrika beobachtet worden. Jacques hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Naïs die erste »Mutantin« des Schwarzen Kontinents war. Die Tatsache, dass sie ein Mischling war, hätte die Vererbung erklären können.
Er hatte seine Hypothese einem Genetiker am Pariser Institut Cochin mitgeteilt. Der Mann hatte bezweifelt, dass ein Pharmakonzern eine solche gigantische Summe bezahlen würde, auch wenn er einräumte, dass der Wille, den Wettlauf um einen Aids-Impfstoff für sich zu entscheiden, zu Auswüchsen führen könnte.
»Ich will, dass sie überwacht wird«, ordnete er an. »Niemand darf sich ihr nähern. Vor allem nicht der Mann, der behauptet, ihr Vater zu sein.«
Er wollte noch ein paar Worte hinzufügen, aber er kam nicht mehr dazu. Sein Lächeln erstarb. Ein Ausdruck fast kindlicher Verblüffung entstellte sein Gesicht. Seine weit aufgerissenen Augen fixierten etwas hinter Megan.
Sie wandte sich um und bemerkte die Spannung, die in den anderen Räumen der Krankenstation herrschte. Als Megan die Oberschwester sah, die mit blutverschmiertem Kittel auf sie zugelaufen kam, spürte sie, wie das Adrenalin ihren Körper erhitzte.
»Er … er ist verletzt«, schrie die Krankenschwester außer Atem.
»Wer?«
»Kommen Sie, bitte«, flehte sie und zog Jacques am Ärmel. Er packte sie an der Schulter.
»Wer? Herrgott noch mal, wer?«
»Der junge Doktor … « Sie schluckte und sog so viel Luft ein, wie sie nur konnte. »Er wurde niedergestochen.«
56
Mit den Zähnen riss Benjamin ein Päckchen sterile Kompressen auf. Das Blut brodelte zwischen seinen Fingern, warm und zähflüssig. Der kupferartige Geruch brannte ihm in den Lungen. Die Wunde am Hals war tief, die Halsschlagader war verletzt. Drei weitere Verletzungen am Brustkorb, glatte Schnittwunden, die beinahe unsichtbar gewesen wären, wenn da nicht das ganze Blut herausgequollen wäre. Er legte eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht des jungen Arztes und überprüfte den Blutdruckmesser. Der Blutdruck war im freien Fall.
»Bereiten Sie den OP vor!«
Drei seiner Kollegen stürzten in dem Moment aus dem Zimmer, als ihm eine Krankenschwester Frischblutkonserven brachte.
»Was … Was soll ich damit machen, Doktor?«
»Einer von euch kümmert sich um die Transfusion!«
Jacques bahnte sich einen Weg in den Ruheraum und kniete sich neben dem Neuling nieder. Er bedeutete den beiden
Weitere Kostenlose Bücher