Die Unseligen: Thriller (German Edition)
sich, um ihr beim Aufsammeln zu helfen.
»Sie sind zu nervös«, sagte er in aller Ruhe.
»Der Tag ist lang … «
»Ich verstehe Sie.« Er hob den Kopf zur Decke. »Sie weinen zu hören, ist eine echte Qual … Ich frage mich immer, was ich für sie tun könnte.«
»Ihrer Tochter wird es bald besser gehen«, beteuerte sie, während sie aufstand. »Nach einer Woche hier werden Sie sie nicht mehr hören.«
»Das wollte ich damit nicht sagen … Ich möchte, dass sich dieses Land verändert, damit diese Kinder keinen Grund mehr zum Weinen haben.«
Megan lächelte ihn verständnisvoll an.
»Nehmen Sie zwei Tabletten ein und in drei Stunden zwei weitere, wenn Sie immer noch Beschwerden haben.« Sie hielt ihm eine kleine Schachtel hin. »Ist das Ihr einziges Kind?«
»Nein … ich habe einen Sohn und eine … «, sein Blick verschleierte sich kurz, »… eine zweite Tochter.«
Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie ihn verstand, dass sie diesen herzzerreißenden Kummer kannte, aber sie hatte nicht die Zeit dazu. Pater David, der die Treppe hinunterrannte, kam in ihr Blickfeld.
»Pater!«
Der Priester warf einen kurzen Blick in ihre Richtung, ohne anzuhalten.
»Pater! Warten Sie!«
Der alte Mann stürzte zum Ausgang der Krankenstation.
»He! Was ist denn das für ein Radau?«, stieß ein Arzt aus, der aus dem Ruheraum kam.
»Ich hab keine Ahnung … Ich glaube, dass … «
Ihre Stimme versagte bei der Vorstellung, dass der Priester ihre Abwesenheit dazu benutzt hatte, den Kindern zu nahe zu kommen.
»Megan? Was ist los?«
Sie antwortete nicht. Eine elektrische Spannung durchzuckte ihre Adern. Und diese Spannung trug sie bis zum Eingang der Notaufnahme. Das spätnachmittägliche Sonnenlicht zwang sie dazu, sich die Hand vor die Augen zu halten. Etwa fünfzehn Meter entfernt, nahm Pater David hinter dem Lenkrad des Fords Platz und schlug die Tür zu. Megan hatte die Übelkeit hervorrufende Gewissheit, dass sie sich nicht geirrt hatte. Als sie auf den Wagen zulief, fuhr der Priester an. Der alte Ford geriet ins Schleudern, drehte sich und wäre beinahe umgekippt, ehe er sich wieder stabilisierte und eine dichte Staubwolke aufwirbelte.
Unmittelbar bevor das Fahrzeug die Piste mit hundert Stundenkilometern hinunterraste, sah Megan hinter der Windschutzscheibe das Gesicht des Priesters, das panische Angst verriet, als wollte ihm der Teufel an die Kehle springen.
95
Umaru Atocha suchte mit den Augen die Hügel ab, über die die Grenze verlief, und fragte sich, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. Ob er kein besseres Leben hätte haben können.
»Chef, da tut sich was … «
Einer der Männer hatte das Fernglas nach Norden gerichtet und zeigte mit dem Finger aufs Krankenhaus.
»Gib her!«
Umaru stellte das Fernglas auf den Wagen ein, der gerade die Notaufnahme verließ und dabei eine Staubwolke hinter sich aufwirbelte. Er runzelte die Stirn. Das Fahrzeug raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Piste, die zwischen den Elendsquartieren hindurchlief. Es schien, als würde da jemand aus dem Krankenhaus fliehen.
»Holt eure Waffen!«, befahl er.
»Aber, Chef, die Sonne steht noch hoch … «
»Ich will nicht das Risiko eingehen, dass sie uns wieder entwischen.« Er zeigte auf drei Männer. »Ich will, dass ihr diesem Wagen folgt. Ihr bleibt dran, egal, was passiert, ist das klar?«
Die Söldner nickten und stürmten zum Pick-up. Umaru räusperte sich und spuckte aus. Er ging zum Kofferraum des Geländewagens und öffnete diesen, wobei etwa zehn Faustfeuerwaffen zum Vorschein kamen. Er nahm eine Maschinenpistole Heckler & Koch mit kurzem Lauf, zog den Reißverschluss einer schwarzen Sporttasche auf und nahm mehrere Strumpfmasken heraus.
Während seine Männer ihre Waffen luden, wanderte sein Blick zum Himmel, und ein Gefühl der völligen Leere überkam ihn. Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht.
Kleines Luder , dachte er.
Naïs begann, mit ihrem Schicksal zu spielen.
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»Megan!«
Sie hatte gerade den Hauptraum des Krankenhauses betreten. Sie drehte sich um und sah den Einsatzleiter von MSF mit fahlem Gesicht auf sich zulaufen.
»Gerade hat mich die Polizei angerufen.« Ihm war nicht bewusst, dass er schrie. »Sie glauben, dass wir in Gefahr sind. Mist, was ist das für eine Geschichte?«
Megan bemerkte, dass sich der verletzte junge Mann plötzlich für die Worte des Arztes interessierte.
»In welcher Gefahr?«
»Dieser Mann, dessen Foto in den Zeitungen zu sehen ist, den die
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