Die Unseligen: Thriller (German Edition)
reicht.«
»Ich kann weitermachen, Chef … «, keuchte der junge Mann.
Er spuckte Blut und griff nach der Hand, die ihm einer der Söldner hinhielt, um ihm aufzuhelfen.
»Du musst einsatzfähig bleiben.«
Umaru trat an ihn heran und musterte zufrieden die Wunden. Sie waren oberflächlich, aber die Ärzte würden ihn über Nacht dabehalten. Er ging seinen Plan noch einmal durch und schätzte ein letztes Mal die Risikofaktoren ab.
Henry Okah würde nicht am helllichten Tag zuschlagen, vermutete er, was ihnen genügend Zeit ließe, um ihm zuvorzukommen. Mit einem Mann in der Krankenstation wären sie im Vorteil. Aber dieser Vorteil war zu schwach, als dass sie sich einen Fehler leisten konnten.
»Du weißt, was du zu tun hast?«
Der Junge hob seine Mütze aus dem Staub auf, schlug sie gegen den Oberschenkel und starrte seinem Chef direkt in die Augen.
»Bis zum Sonnenuntergang verhalte ich mich ruhig. Anschließend stelle ich den Strom im gesamten Gebäude ab und warte auf euch.« Er biss die Zähne zusammen. »Ich sage es Ihnen noch einmal, Chef: Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
Umaru wandte den Blick ab und ließ ihn zu der Geisterstadt schweifen, in der das Schicksal entscheiden würde, wer am Leben bliebe und wer sterben würde. Ein Anflug von Traurigkeit überkam ihn, als er an die Ärzte und Pflegekräfte dachte, die sich zwischen Naïs und ihn stellen und daher den nächsten Tag nicht erleben würden.
»Also gut«, sagte er zu seinen Männern, »ihr könnt ihn ins Krankenhaus bringen.«
92
Vom anderen Ende des Raumes aus beobachtete Yaru Aduasanbi den Priester und die Krankenschwester. Durch seine Finger floss kein Blut mehr, so fest umklammerte er den Griff seiner Waffe. Er war sich unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte.
Wenn er schießen würde, müsste er seine Flucht fortsetzen, die Grenze überschreiten und versuchen, in den Tschad und nach N’Djamena zu gelangen. Naïs war zwar wieder etwas zu Kräften gekommen, aber nicht so sehr, dass sie eine neue Irrfahrt durchstehen würde – in dieser Hitze würde sie nicht überleben. Er selbst war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde.
Jedes Wort, das er in den Zeitungen gelesen hatte, hatte ihm mehr Schmerzen bereitet, als es Dolchstöße hätten tun können. Der Tod seiner Tochter war ein Ereignis von grausamer Sinnlosigkeit, das ihn am Boden zerstörte. Er versuchte sich einzureden, es sei nur eine Lüge, eine List, die ihn aus seinem Versteck herauslocken solle, aber der Schock war derart brutal gewesen, dass der Zweifel an ihm nagte.
Er bekam keine Luft. Er konnte keinen Kontakt mehr zu seiner Frau aufnehmen. Zu gefährlich. Er ließ die Waffe los und stützte sich gegen die Wand, um nicht umzufallen. Das Kind neben ihm sah ihn erstaunt an, es fragte sich bestimmt, warum dieser Mann so sehr zitterte.
Yaru Aduasanbi unterdrückte sein Schluchzen. Er musste weiterkämpfen, aber er war nicht mehr so fest vom Sinn seines Kampfes überzeugt. Er musste sich sogar daran erinnern, wofür er sich entschieden hatte, sich selbst sagen, dass ein Mann seine Überzeugungen konsequent umsetzen müsse und sein Leben andernfalls nicht lebenswert sei.
Aber auf seiner Flucht hatte ihm so vieles gefehlt – das Lächeln seiner Frau und die Zärtlichkeit ihrer Gesten, das Tuscheln seiner Kinder und ihr Atem in seinem Nacken – , so viele Dinge, die ihm egoistisch erschienen waren und die er im Namen der Revolution geopfert hatte. Er war der Ansicht gewesen, er zahle mit seinem Glück einen geringen Preis, aber in diesem Zimmer hatte er erkannt, wie egoistisch es gewesen war, seine Familie um ihr Glück zu bringen.
»Megan?«
Die Krankenschwester wandte ihr angsterfülltes Gesicht der Treppe zu, und Yaru Aduasanbi trat einen Schritt zurück, als er, auf der obersten Stufe, den Arzt bemerkte, der Naïs behandelt hatte.
»Ich brauch dich im Erdgeschoss.«
»Nicht jetzt.«
»Es ist dringend.«
Sie sah zuerst den Priester, dann Naïs an und zögerte, sie allein zu lassen.
»Was ist los?«, fragte sie, während sie sich vom Bett entfernte.
»Ein junger Mann, der zusammengeschlagen wurde. Er ist gerade eingetroffen. Die Verletzungen sind oberflächlich, aber er ist sehr erregt … «
Aduasanbi wartete, bis sie verschwunden waren, und ging auf den Missionar zu. Der Mann konnte den Blick nicht von Naïs abwenden, und Yaru verstand, besser als irgendjemand sonst, die merkwürdige Faszination, die von dem Mädchen ausging.
»Guten Tag, Pater …
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