Die Unseligen: Thriller (German Edition)
und zog seine Waffe.
100
Umaru Atocha hob die Faust, um seine Männer aufzuhalten. In der Kinderstation war es still, die Mütter und die Kinder drängten sich in einer Ecke des Zimmers.
»Sind sie oben?«, fragte er die Frauen.
Eine von ihnen hob einen zitternden Finger zur Decke und nickte.
Umaru dankte ihr schweigend und winkte seinen Männern, ihm zu folgen. Henry Okah und Yaru Aduasanbi – die maßgeblichen Gestalten seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart – waren da, ganz nah, am Ende dieser Treppe. Er setzte den Fuß auf die dritte Stufe der Treppe, die aufs Dach führte, als zwei Schüsse krachten. Ein Schatten draußen löschte kurz die Sonnenstrahlen aus. Es hatte nur einen Herzschlag gedauert, aber alle hatten es gesehen. Es hätte ein Vogel sein können, der die Fassade streifte, ein vom Wind fortgewehtes Leintuch.
Ein Körper, der in die Tiefe fiel.
Umaru blieb stehen, die Holzlatten knarrten unter seinem Gewicht. Sein Handy vibrierte an seinem Gürtel.
»Ich höre«, flüsterte er und drückte den Hörer ans Ohr.
Das Rauschen in der Leitung übertönte immer wieder die Stimme am anderen Ende.
»Chef, das Mädchen ist nicht in der Klinik … Ich wiederhole: Sie ist nicht in der Klinik … Sie ist hier … «
»Wo seid ihr?«
»Sieht aus wie eine katholische Missionsstation … Naïs ist bei einem Priester … Ich habe gesehen, wie er mit ihr aus dem Wagen ausgestiegen ist.«
Umaru lächelte. Dieser alte Fuchs Aduasanbi hatte sie ein weiteres Mal überlistet.
»Seid ihr sicher, dass sie es ist?«
»Ich bin sicher, Chef.«
»Schickt mir die Koordinaten und überwacht sie weiter.«
Er wandte sich seinen Männern zu. Draußen wurde das Bellen der Hunde mittlerweile von den Sirenen der Polizeiautos übertönt, die auf das Krankenhaus zurasten.
»Wir verkrümeln uns und kommen zu euch«, sagte er und legte auf.
101
Der Aufprall war nicht so heftig, wie er es befürchtet hatte. Der vom Sturz ausgelöste Adrenalinschub hatte den Schmerz gelindert, als er mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufgeschlagen war. In diesem Moment hatte er deutlich den tiefen Ton einer aufplatzenden Wassermelone gehört. Dieser Ton hallte wie eine ferne Schwingung in seinem Kopf nach.
Über ihm ragte die Fassade des Krankenhauses steil in den Himmel, und er glaubte am Rand des Daches den Schatten von Henry Okah zu erkennen, der zu ihm hinuntersah. Gesichter hinter Fenstern betrachteten ihn, Gestalten umgaben ihn, er erkannte ihre Bewegungen am Rand seines Gesichtsfeldes, hörte aber keine Stimme.
Alles, was er über diesen Moment gelesen oder gehört hatte, war falsch. Weder wurde er von weißem Licht eingehüllt noch schwebte er schwerelos wie ein Kosmonaut in der Luft. Er hatte erwartet, eine arktische Kälte zu empfinden – aber diese kam nicht. Zu spüren, wie das Leben langsam aus ihm entwich, versetzte ihn auch nicht in einen rauschhaften Zustand.
Das, was ihn in diesem Moment am meisten erschreckte, war das Warten. Wie lange würde sein Todeskampf dauern?
Er sah sich an der Universität Abuja, wie er mit seinen Studenten die Empörung teilte, die in ihm gärte. Seit er das Elend im Nigerdelta entdeckt hatte, hatte nichts seine Wut dämpfen können. Nicht einmal die Drohung der Polizei, als er begonnen hatte, Sympathisanten um sich zu scharen und die Sache der Bauern und der Fischer des Deltas in der Presse zu verteidigen. Die Ölkonzerne hatten versucht, ihn zu bestechen, und als Reaktion darauf hatte er zu den Waffen gegriffen.
Diese Entscheidung hatte ihn in Kontakt mit Henry Okah gebracht. Dem Mann, der gerade zusah, wie er starb.
Ein junger Professor hatte ihm von diesem Nigerianer erzählt, der es in Südafrika zum Millionär gebracht hatte. Nach Aussage dieses Professors machte Henry Okah keinen Hehl aus seiner Verachtung für die nigerianische Regierung und schrieb unter dem Pseudonym Jomo Gbomo E-Mails, die die Bevölkerung zu einem Staatsstreich aufstachelten.
Yaru Aduasanbi war eigens nach Johannesburg in Südafrika gereist, um ihn zu treffen. Er erinnerte sich daran, dass er ihm die Lage im Delta geschildert und seinen bitteren Ärger darüber zum Ausdruck gebracht hatte. Im Garten der Luxusvilla von Okah hatten sie lang und breit über seinen Plan, eine Revolution anzuzetteln, gesprochen, und Henry Okah hatte sich bereit erklärt, sich ihm anzuschließen und das Abenteuer zu finanzieren.
Ohne Okah wäre es ihm nie gelungen, aus der MEND eine schlagkräftige, organisierte Gruppe zu
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