Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Gesicht war völlig ausdruckslos gewesen, selbst die Augen hatte er kaum zusammengekniffen, um den Rückstoß des Kolbens abzufangen.
Das Geschrei der Patienten und das Klirren einer eingeschlagenen Scheibe ließen sie den Kopf heben. Drei schwarz vermummte Männer standen am Eingang, ein vierter stieg durch das Fenster am Ende des Raumes. Die vom Chrom der Waffen zurückgeworfenen Sonnenstrahlen zeichneten keilschriftartige Zeichen, Abstraktionen aus reinem Licht auf die Wände.
Als der junge Mann, den Megan behandelt hatte, sie sah, sprang er auf. Die Krankenschwester packte ihn am Handgelenk.
»Halt, sie werden Sie töten!«
»Ich gehöre zu ihnen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich gehöre zu ihnen … «
Er humpelte zu den drei Männern, die ihm eines der Schnellfeuergewehre hinhielten, die sie umgehängt trugen. Der Jugendliche sprach denjenigen an, der den Saal durchquerte und vor dem die Kranken zurückwichen: »Chef, ich habe ihn gesehen, er hat die Treppe genommen. Sie sind oben.«
Der Mann blieb neben Megan stehen und starrte sie an.
Als Umaru Atocha seine Strumpfmaske abnahm, bekreuzigten sich einige, andere murmelten erschrocken.
99
Die Blechgiraffe rollte über das Dach des Krankenhauses bis vor die Füße von Yaru Aduasanbi.
»Wo ist sie?«, fragte Henry Okah.
Er richtete die Pumpgun auf die Knie des ehemaligen Chefs der MEND .
»War sie in dem Auto, das gerade wegfuhr?«
»Im Ernst, Henry«, seufzte Aduasanbi, während er sich zum Tschadsee wandte, »glaubst du, dass ich dir das sagen werde?«
Okah senkte den Lauf.
»Nein, ich weiß, dass du nichts sagen wirst«, sagte er und blickte ebenfalls zum Horizont. »Aber du weißt, dass ich sie finden werde, nicht wahr?«
Yaru Aduasanbi antwortete nicht. Er konnte sich nicht entschließen, zu seiner Waffe zu greifen, sein Glück zu versuchen, denn was würde er tun, nachdem er Okah getötet hätte? Seine Flucht fortsetzen? Bis wann? Er war zu müde, zu erschöpft. Naïs war bei dem Priester in Sicherheit, das wollte er sich jedenfalls einreden. Aber dann? Was würde nach seinem Tod passieren? Er hatte geglaubt, durch die Entführung dieses Kindes die Regierung zum Nachgeben bewegen zu können.
Als er mit Naïs geflohen war, hatte er gehofft, eines Tages wieder an die Spitze der Revolution zu treten, den Kampf fortsetzen zu können und irgendwann den Sieg davonzutragen. Er hatte geglaubt, dass er mit der Drohung, Naïs aus dem Weg zu räumen, die Regierung dazu bringen könnte, seinen Forderungen nachzugeben, und dass er zunächst das Nigerdelta, dann Lagos, dann ganz Nigeria unter seine Kontrolle bringen könnte. Auf dieser mehrmonatigen Flucht, auf der er Hunger, Sonne und Angst getrotzt hatte, hatte er sich dabei ertappt, davon zu träumen, wie er das nigerianische Volk in ein neues Zeitalter, ein Zeitalter der Aufklärung und der sozialen Gerechtigkeit führen würde, er hatte von Frieden und Eintracht geträumt. Er hatte sich glühend verehrt gesehen wie ein Nelson Mandela, ein Ernesto Guevara, geliebt und bewundert, er hatte den Stolz in den Gesichtern seiner Frau und seiner Kinder gesehen.
»Kann ich dir eine Frage stellen?«, sagte er.
»Klar … «
»Was hat dir die Regierung dafür versprochen?«
Henry Okah zuckte mit den Schultern.
»Meine Freiheit für Naïs. Meine Freiheit für das Ende der MEND .« Er sah Aduasanbi direkt in die Augen. »Meine Freiheit für deinen Tod.«
»Ich würde sagen, das ist ein anständiger Deal.«
»Du lügst«, sagte Okah lächelnd. »Ich kenne dich, Yaru, du glaubst, dass es nur eine kollektive Freiheit gibt, aber das ist ein Hirngespinst. Das Volk wird nie frei sein. Die Welt von heute ist genauso wie die von gestern, und weder du noch ich hätten dies ändern können.«
»Du irrst dich, Henry«, widersprach Aduasanbi schwach.
Henry Okah hob wieder sein Gewehr, und die Achse des Laufs beschrieb eine unsichtbare Kurve bis zum Herzen Aduasanbis.
»Es ist Zeit zu beten, Herr General.«
»Nicht so«, murmelte Yaru Aduasanbi.
Er drehte sich um und ging langsam bis zum Rand des Dachs. Als er den Abgrund unter seinen Füßen erblickte, umklammerte seine Hand den Griff seiner Waffe. Er wusste, dass er weder schnell noch treffsicher genug war, um Okah zu erschießen, aber er weigerte sich, zu sterben, ohne die Geste gemacht zu haben, ohne die Absicht – wenigstens die Absicht – gehabt zu haben, den Tod seiner Tochter zu rächen.
Das sollte seine letzte Tat auf Erden sein.
Er drehte sich um
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