Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Polizei sucht.« Aufs Äußerste bestürzt, hob er die Hände. »Sie haben mir gesagt, er wäre hier.«
Die Krankenschwester antwortete nicht. Irgendwo draußen bellten Hunde. Die Verwundeten und die Kranken tuschelten miteinander, in einer Sprache, die sie nicht verstand.
»Wusstest du Bescheid?«, brüllte der Arzt. »Und du hast uns nichts gesagt? Du hast die Polizei nicht informiert?«
Sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihr Mitleid mit dem Schicksal von Yaru Aduasanbi, ihr Mitgefühl mit einem Mann, der gerade seine Tochter verloren hatte, wandte sich in Sekundenschnelle gegen sie.
»Was ist nur mit dir los? Wo ist er?«
»Gerade war er noch da … «
»Wo ist er?«, schrie er.
»Er muss oben sein, bei … «
Die Stimme versagte ihr. Auch die Kranken verstummten. Alles in diesem Raum erstarrte, als wäre die Zeit plötzlich stehen geblieben.
Eine massige Gestalt war gerade in der Tür erschienen und betrachtete das Schauspiel. Ein schwarzer, strahlender Blick, geprägt von einer unendlichen Gelassenheit.
Der Mann lud seine Pumpgun durch und zielte auf die Decke. Der Schrot riss ein Stück Gips aus dem Putz. Weiße Krümel fielen zu Boden, und eine Staubwolke schwebte in der Luft. Der Mann wartete, bis der letzte Widerhall des Knalls verklungen war, ehe er mit monotoner Stimme sagte: »Ich suche jemanden.«
97
Unter seinen Füßen hatte der Boden gebebt.
Schreie stiegen vom Erdgeschoss auf. Um ihn herum beeilten sich von panischer Angst ergriffene Mütter, ihre Kinder in die Arme zu nehmen.
Yaru Aduasanbi sah aus dem Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt. Ärzte und Patienten flohen aus dem Krankenhaus, zerstreuten sich wie ein aufstiebender Schwarm Vögel. Die Gestalten drängten sich, fielen in den Staub, und als Aduasanbi sah, wie sie dem Tod die Stirn boten, empfand er ein tiefes Mitgefühl.
Ein zweiter Schuss ertönte. Diesmal näher bei ihm.
Yaru Aduasanbi hob ein Spielzeug auf – eine Giraffe aus Blech – , das in der Nähe des Nachtschränkchens lag, und stellte es auf ein Kissen. Er näherte sich langsam der Zone des Fußbodens, die durch den Schuss durchsiebt worden war. Lichtstrahlen fielen durch etwa dreißig winzige Löcher senkrecht durch den Boden, und darunter erblickte er den Körper einer Frau im Kittel einer Krankenschwester, die zwischen den Betten in einer Blutlache lag. Um sie herum eilten Leute geschäftig hin und her, man versuchte, eine Herzmassage bei ihr durchzuführen, er hörte die Gebete dieser Menschen, und er unterdrückte ein Stöhnen, als ihm bewusst wurde, dass diese Frau, genauso wie seine Tochter und so viele andere, durch seine Schuld gestorben war. Er ging zur Treppe, wo ihm in der allgemeinen Verwirrung zu Tode erschrockene Schatten entgegenstürzten, die die Stufen hinuntereilten. Er öffnete die Klappe, die auf das Flachdach des Krankenhauses führte.
Der Tschadsee schimmerte im Licht der Abenddämmerung, und dieses Bild aus roten Farbtönen erinnerte ihn an einen riesigen Vulkan, der nur auf ein Beben wartete, um Flammengarben auszuspucken und alles zu verschlingen.
Wie schön die Welt doch ist, dachte er.
Den vermummten Männern, die sich zwei Stockwerke tiefer einen Weg durch die Menge bahnten, schenkte er ebenso wenig Beachtung wie der Person, die hinter ihm stand.
»Guten Abend, Yaru … lange her, nicht wahr?«
98
Neben der tschadischen Krankenschwester kniend, wusste Megan, dass es zwecklos war, die Blutung zu stillen, dass es nichts mehr brachte, den Reanimationswagen zu holen, dass es keine Hoffnung mehr gab. Dennoch führte sie alle rettenden Gesten aus, wiederholte sie unermüdlich, und wenn der Arzt sie nicht weggezogen hätte, dann hätte sie noch stundenlang so weitergemacht.
Schwankend stand sie auf, aber sie konnte den Blick einfach nicht von diesem leblosen Körper abwenden.
Der Schuss hatte ihrer Kollegin die Kehle aufgerissen, und mit dem Blut waren Knochensplitter und Fleischfetzen aus der klaffenden Wunde gespritzt. Die Augen hatten sich verschleiert. Der aus der Decke herausgesprengte Gips hatte ihr Gesicht, ihre Lippen gepudert.
Als sie das Leben ausgehaucht hatte, waren weiße Partikel, getragen von dem letzten Atemzug der Sterbenden, einige Zentimeter über ihrem Mund geschwebt, ähnlich einem Dampffähnchen in einer Winternacht.
Megan verstand nicht.
Warum war die Krankenschwester auf den Mann zugegangen? Warum hatte sie der Drohung mit der Waffe getrotzt? Und warum hatte der Mann geschossen?
Sein
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