Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
du nicht über ihn sagen?«
Doch, das konnte Andras. Er dachte an das Gespräch an Polaners Krankenbett nach dem Überfall. Ben Yakov hatte sie beide mit der Einsicht beschämt, wie wenig sie über ihren Freund wussten und wie unwahrscheinlich es war, dass er sich einem von ihnen anvertraut hätte. »Er ist ein guter Freund«, sagte Andras. »Er ist ein guter Student. Beliebt bei den Frauen. Er war nicht immer ehrlich zu ihnen, doch was Ilana angeht, ist er absolut aufrichtig.«
»Sie hat mir erzählt, wie sie sich kennengelernt haben«, sagte Tibor. »Es war auf dem Markt. Sie war mit einer Freundin dort und hatte gerade zwei Hühner gekauft, doch diese brachen aus dem Käfig aus und liefen davon. Sie flüchteten in eine Gasse und dann in einen Hinterhof. Ben Yakov fing die Vögel ein. Er steckte sie in den Käfig zurück und reparierte ihn mit einem Draht. Dann bestand er darauf, sie für Ilana nach Hause zu tragen.«
»Entflohene Hühner«, sagte Andras. »Ein romantischer Anfang.«
»Und dann stattete er ihr heimlich Besuche ab«, fuhr Tibor fort.
»Ja, natürlich. Er hatte schon immer eine Schwäche fürs Dramatische.«
»Und dann die Pläne von Ilanas Familie für sie. Das wirkt doch alles ziemlich unehrenhaft von seiner Seite, oder? Er hätte vor ihren Vater treten und sich zu ihr bekennen sollen.«
Andras stieß ein Lachen aus. »Genau das hat Klara auch gesagt, fast wortwörtlich.«
Tibor runzelte die Stirn und stellte die Tasse auf den Tisch. Er verschränkte die Finger vor der Brust und schaute hinaus in den grauen Himmel und die in die Lüfte schwindenden Straußenfedern der qualmenden Schornsteine. »Das Mädchen ist neunzehn Jahre alt«, sagte er. »Ich habe ihren Ausweis gesehen. Sie hatte letzte Woche Geburtstag. Und weißt du, was noch? Am Hals hat sie ein Muttermal in Form eines fliegenden Vogels.«
»Was für ein Vogel?«, sagte Andras. »Ein Huhn?«
Tibor brach in hilfloses Lachen aus, das in einen Hustenanfall überging. Er beugte sich im Sessel vor und hielt das Taschentuch vor den Mund. Als er sich wieder zurücklehnte, musste er sich mit dem Ärmel über die Augen wischen und den Rest seines Tees trinken, ehe er wieder sprechen konnte.
»Warum rede ich überhaupt mit dir?«, sagte er.
»Ich nehme an, du hast es dir vor vielen Jahren angewöhnt und nicht mehr damit aufgehört.«
»Egal, es gibt Wichtigeres zu besprechen. Zum einen deine Verlobung mit Madame Morgenstern.«
»Ah, ja. Wie durch ein Wunder hat Klara eingewilligt, meine Frau zu werden.«
»Demnach wirst du der Erste von uns dreien sein, der unter die Haube kommt.«
»Falls die Welt nicht bis zum Sommer untergeht.«
»Durchaus eine Möglichkeit, so wie die Dinge zurzeit stehen«, bemerkte Tibor.
»Aber wenn nicht, wird sie Madame Lévi werden.«
»Und was ist mit ihrer geheimen Vergangenheit?«
Andras hatte seinem Bruder nicht davon schreiben wollen, sondern versprochen, sie würden darüber reden, wenn Tibor zu Besuch käme; Andras hatte an die Vorsicht der älteren Frau Hász gedacht und entschieden, es könne unklug sein, diese Geschichte über den Postweg zu verbreiten. Jetzt setzte er sich zu Tibor an den kleinen Tisch und gab Klaras Geschichte von Anfang bis Ende wieder, was Klara persönlich ihm gestattet hatte. Als er fertig war, schaute Tibor ihn lange Zeit sprachlos schweigend an.
»Wie entsetzlich«, sagte er schließlich. »Das alles. Und jetzt lebt sie in der Verbannung.«
»Und das ist unser Problem«, sagte Andras. »Ein offenbar unlösbares.«
»Du hast doch Anya und Apa nichts davon geschrieben, oder? Hast ihnen nicht erzählt, dass du verlobt bist und so weiter?«
»Ich hatte nicht den Mut. Wahrscheinlich habe ich noch die Hoffnung, dass sich Klaras Lage ändern könnte.«
»Aber wie, wenn es keine Verjährung gibt?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde wohl mit ihr im Exil bleiben müssen, bis sich das ändert.«
»Ach, Andráska«, sagte Tibor. »Kleiner Bruder.«
»Du hast mich gewarnt«, sagte Andras.
»Und du hast natürlich nicht auf mich gehört.« Er beugte sich vor und hustete in seine Faust. »Ich darf nicht so lange aufrecht sitzen. Ich müsste im Bett liegen. Und ich sollte keinen Rat in Liebesdingen geben, ausgerechnet ich. Über das Herz weiß ich nicht mehr, als dass es ein Organ mit vier Kammern ist, das Blut durch den Körper pumpt. Linke Herzkammer, rechte Herzkammer, linker Vorhof, rechter Vorhof und dazu die Klappen: Trikuspidalklappe, Mitralklappe, Lungen- und
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