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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hatte ein Soldbuch mit dem königlich-ungarischen Stempel; zweimal monatlich wurde er mit Regierungsschecks entlohnt. Er durfte Briefe und Päckchen verschicken und empfangen, auch wenn alles kontrolliert wurde. Und weil er Abitur hatte, wurde er in den Stand eines Arbeitsdienstoffiziers erhoben. Er war der Führer seiner zwanzigköpfigen Gruppe. Er trug eine Offiziersmütze und hatte einen doppelten Winkel auf der Brusttasche, und die anderen Gruppenangehörigen waren verpflichtet, ihn zu grüßen und mit seinem Dienstgrad anzusprechen. Andras hatte ihre Anwesenheit zu kontrollieren und die Nachtwache einzuteilen. Seine zwanzig Leute mussten sich mit Sonderwünschen oder Problemen an ihn wenden; bei Meinungsverschiedenheiten war er der Schlichter. Zweimal pro Woche musste er dem Kommandeur über den Zustand seiner Gruppe Bericht erstatten.
    Die 112/30 hatte den Auftrag, ein Waldgebiet zu roden, durch das im Frühjahr eine Straße gebaut werden sollte. Morgens standen sie im Dunkeln auf und wuschen sich mit geschmolzenem Schneewasser; sie zogen sich an und schoben die Füße in ihre kälteharten Stiefel. Im schwachrot glühenden Schein des Holzofens tranken sie bitteren Kaffee und vertilgten ihre Brotration. Es gab morgendliche Freiübungen: Liegestütze, Seitbeugen, Sprünge aus dem Stand. Dann bildeten sie auf das Kommando ihres Feldwebels einen Marschverband im Hof, die Äxte über die Schultern geworfen wie Gewehre, und machten sich durch die Dunkelheit zu ihrem Einsatzort auf.
    Das Wunder, das Andras an diesem Ort zuteilwurde, bestand in der Person eines Arbeitskollegen. Es war niemand anderes als Mendel Horovitz, der sechs Jahre lang zusammen mit Andras in Debrecen zur Schule gegangen war und bei der Vorentscheidung zur Olympiade von 1936 die ungarischen Rekorde im 100-Meter-Lauf und im Weitsprung gebrochen hatte. Ganze zehn Minuten lang war Mendel Mitglied der ungarischen Olympiamannschaft gewesen – nach seinem letzten Sprung hatte ihm jemand eine offizielle Jacke um die Schultern gelegt und ihn zu einem Meldetisch geführt, wo der Sekretär die persönlichen Daten aller Sportler aufnahm, die sich qualifiziert hatten. Doch die dritte Frage, nach Name? und Geburtsort?, hatte Religionszugehörigkeit? gelautet, und da hatte Mendel dann versagt. Natürlich hatte er vorher gewusst, dass Juden nicht teilnehmen durften; seine Teilnahme an den Vorausscheidungen war eine Form des Protests und Ausdruck der abwegigen Hoffnung gewesen, man würde vielleicht für ihn eine Ausnahme machen. Hatte man natürlich nicht, eine Entscheidung, die die Funktionäre später noch bedauern sollten; Mendels Rekord über hundert Meter lag nur eine Zehntelsekunde hinter der Goldmedaillenzeit von Jesse Owen.
    Als Mendel und Andras sich auf dem Verschiebebahnhof des Arbeitsdienstes in Budapest entdeckten, gab es ein so großes Hallo und Schulterklopfen, dass beide ihren Dienst beim Munkaszolgálat mit einem Tadel für schlechtes Benehmen antraten. Mendel hatte ein hageres Gesicht und als Mund ein schiefes V, seine Augenbrauen glichen den fedrigen Antennen eines Schmetterlings. Er war in Zalaszabar geboren und hatte das Gimnázium in Debrecen auf Kosten eines Onkels mütterlicherseits besucht, der darauf bestand, dass sein Schützling zu einem zukünftigen Mathematiker ausgebildet würde. Doch Mendel verspürte keinerlei Neigung zu rechnerischen Abstraktionen; ebenso wenig strebte er eine Sportlerlaufbahn an, trotz seiner Talente. Nein, was er wollte, war: Journalist werden. Nach der Enttäuschung in der Olympiamannschaft hatte er eine Redakteursstelle bei einer Abendzeitung bekommen, der Budapester Esti Kurír . Bald hatte er begonnen, seine eigenen Kolumnen zu verfassen, satirische Petits-fours, die er unter einem Pseudonym in den Briefkasten des Chefredakteurs schob und die gelegentlich in Druck gingen. Ein Jahr hatte Mendel bei der Esti Kurír gearbeitet, bis er eingezogen wurde; anfangs hatte er die Kündigungswelle überlebt, die auf die Einführung der Sechs-Prozent-Quote für jüdische Pressemitarbeiter folgte. Andras fand ihn bemerkenswert zuversichtlich angesichts seiner Verfrachtung in die Waldkarpaten. Er halte sich gerne in den Bergen auf, sagte Mendel, sei gerne draußen, die Arbeit mit den Händen mache ihm Spaß. Nicht einmal das unablässige, mühselige Holzschlagen würde ihm etwas ausmachen.
    Vielleicht hätte es Andras auch nicht gestört, wären die Werkzeuge denn scharf und das Essen reichlicher, die Jahreszeit warm

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