Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
und die Arbeit freiwillig gewesen. Bei jedem Baum, den sie auf der riesigen Einsatzstelle im Wald fällten, hielten sie sich an ein befriedigendes Ritual: Mendel schlug die erste Kerbe mit der Axt, und Andras legte die Ablängsäge in die Furche. Dann packten sie beide an die Griffe und sägten los. Wenn sie die äußeren Ringe durchtrennten, sprühte eine süßliche Gischt von Sägemehl. Die Reibung wurde immer stärker, je tiefer das Sägeblatt im Stamm versank. Sie mussten schmale Stahlkeile in die Lücke schieben, um sie offen zu halten; wenn sie sich der Mitte näherten, wo das Holz eine größere Dichte hatte, begann das Blatt zu kreischen. Manchmal dauerte es eine halbe Stunde, dreißig Zentimeter Kernholz zu durchsägen. Dann folgte im Eiltempo der Weg bis zur anderen Seite, die Vollendung ihrer Anstrengung. Wenn nur noch wenige Zentimeter vor ihnen lagen, schoben sie weitere Keile in den Spalt und zogen die Säge heraus. Mendel rief: Alle weg! und gab dem Baum einen Schubs. Dann folgte ein längeres krächzendes Stöhnen, der Schwung setzte sich den Stamm hinauf fort, die oberen Äste drängten sich an ihren Nachbarn vorbei. Das war der wahre Tod des Baums, fand Andras: der Moment, wenn er kein aufwärtsstrebendes Wesen mehr war, sondern das wurde, was sie aus ihm machten: Holz. Der fallende Baum schob eine gewaltige Windböe vor sich her; wenn er sich zu Boden neigte, durchschnitten die Zweige die Luft mit einem vielstimmigen Pfeifen. Traf der Stamm mit seinem unglaublichen Gewicht dröhnend auf dem Waldboden auf, gab es eine Erschütterung, die Andras durch die Stiefelsohlen und die Knochen bis hinauf in den Schädel stieg, wo sie wie Kanonendonner widerhallte. Dann folgte ein Echo, das leise Kaddisch des Baumes. Und in die Leere hinein fielen die Befehle des Vorarbeiters: Alles klar, Leute! Los, macht weiter! Die Äste mussten zu Brennholz gehackt, die nackten Stämme zu mächtigen Tiefladern gezogen werden, die sie zum Bahnhof transportierten, von wo sie nach Ungarn verschickt wurden.
Mendel und Andras arbeiteten gut zusammen. Sie gehörten zu den Schnellsten und verdienten sich oft das Lob des Vorarbeiters. Doch unter den gegebenen Umständen war das alles nicht sehr befriedigend. Andras war aus seinem Leben gerissen, war nicht nur von Klara, sondern von allem anderen getrennt worden, das ihm in den vergangenen zwei Jahren wichtig gewesen war. Im Oktober, als er sich mit Le Corbusier über Entwürfe für einen Sportclub in Indien hätte beratschlagen sollen, fällte er Bäume. Im November, als er ein Projekt für die Ausstellung des dritten Jahrgangs hätte bauen sollen, fällte er Bäume. Und im Dezember, als er seine Halbjahresprüfungen hätte ablegen sollen, fällte er immer noch Bäume. Der Krieg hatte das akademische Jahr zeitweilig unterbrochen, das wusste er, aber mittlerweile war es sicherlich wieder aufgenommen worden. Polaner, Rosen und Ben Yakov – und schlimmer noch: diese grinsenden Kerle, die ihn nach dem Prix du Amphithéâtre beleidigt hatten – würden ihren Abschlüssen entgegensegeln, Gebäude aus ihrer Fantasie in klare schwarze Linien auf Zeichenpapier übersetzen. Seine Freunde würden sich abends zum Trinken im La Colombe Bleue treffen, im Quartier Latin wohnen, ihr Leben weiterführen.
So jedenfalls stellte er es sich vor, bis Klara ihm ein Päckchen Briefe mit Nachrichten aus Paris schickte. Polaner, erfuhr Andras, war zur Fremdenlegion gegangen. Wenn Du Dich doch nur mit mir hättest melden können , schrieb er. Ich werde jetzt an der École Militaire ausgebildet. Diese Woche habe ich gelernt, mit einem Gewehr zu schießen. Zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich den brennenden Wunsch, eine Feuerwaffe zu bedienen. Die Zeitungen bringen ständig neue Schreckensmeldungen: SS -Einsatztruppen treiben Professoren und Künstler auf Dorfplätzen zusammen und exekutieren sie. Polnische Juden werden in Züge verfrachtet und in elende Sümpfe rund um Lublin umgesiedelt. Meine Eltern sind fürs Erste noch in Krakau, aber Vater hat seine Fabrik verloren. Ich werde Nazi-Deutschland bekämpfen, selbst wenn es mich das Leben kostet.
Rosen, stellte sich heraus, wollte mit Shalhevet nach Palästina auswandern. Ohne Dich ist es todlangweilig in der Stadt, kritzelte er in seiner ausladenden Schrift. Außerdem merke ich, dass ich keine Geduld mehr zum Lernen habe. Jetzt, da Europa im Krieg ist, kommt mir die Schule sinnlos vor. Aber ich werde mich nicht wie Polaner vor die Panzer
Weitere Kostenlose Bücher